Sonntag, 14. Mai 2023

Der Urlaub

“Kinder, wir fahren in den Urlaub”, erklärte Vater feierlich.

Kurz bevor er zum letzten Mal seinen Job verlieren würde, hatte er noch einen Peugeot 106 gekauft. Vier Sitze, zwei Türen, die Leistung mehrerer Pferde, und in der Mittelkonsole ein Aschenbecher, dessen Fassungsvermögen meine Eltern regelmäßig ausreizten. Sein ganzer Stolz.

Und so fanden meine Schwester und ich, ich war wohl so sieben oder acht, uns auf der Rückbank, zwischen uns ein Koffer, unter meinen Füßen eine Tasche, der Kofferraum voll, an einem brüllend heißen Pfingstwochenende mit Brückentag auf dem Weg nach Holland.

“Lass die Finger weg vom Fenster sonst klatscht es!”, schrie mein Vater nach hinten. “Das zieht mir im Nacken!” Eine Kippe nach der anderen, die Hitze kaum zu ertragen, und ich mit dem billigen Fake-Gameboy, der nur Tetris spielen konnte, und neben mir die Schwester mit dem echten Gameboy. Der Vater immer kurz vorm Explodieren, die Mutter still und duckmäuserisch, alibimäßig eine Karte haltend die sie sicher nicht hat lesen können. Aber das war okay, denn Vater kannte jeden Weg.

Aus dem Kassettenspieler brüllte Tom Astor, ein Musiker aus dem zu recht vergessenen Genre der deutschen Lastkraftwagenfahrermusik, die versuchte, die Magie der amerikanischen Truckerkultur auf Deutschlands ordentliche und gemäßigte Autobahnen zu übertragen. Aber Vater bildete sich ein zu einer Kultur zu gehören, von der ich bis heute nicht sicher bin, dass sie existierte, und so waren wir alle gezwungen, Lieder zu hören, in denen es um vergessene Teddies an Autobahnraststätten, Sekundenschlaf, die Einsamkeit auf der Straße und CB-Funk ging.

Auf dem Weg fragt uns Vater nach jedem Nummernschild, wofür steht D, und wofür steht KR, und wofür steht RE, und meine Schwester und ich, Grundschüler, die Köln nie verlassen hatten, können nicht antworten und mit jedem falschen Versuch und jedem “weiß ich nicht” wird Vater gereizter. Irgendwann explodiert er, weil Mutter eine Raststätte, an der die beiden wohl schonmal gehalten hatten, nicht erkennt. Die Autobahn ist seine Domäne, und dass seine Familie darüber weniger weiß als er, kann er nicht verstehen.

Irgendwann werden die Nummernschilder zunehmend gelber, und die Tiraden richten sich nicht mehr gegen uns, sondern gegen die holländischen Autofahrer, lernen die denn nichts in der Fahrschule, und welche Schwuchtel hat denn diese Kreisverkehre erfunden, was spricht denn gegen eine Ampel. Anstatt mich am Charme der Raps- und Tulpenfelder, Grachten und Windmühlen zu erfreuen schaue ich auf Vaters roten Nacken, dessen Speckwülste sich unter der Kopflehne nach hinten durchpressen, und hasse mein Leben.

Dann erreichen wir den Campingplatz, kommen an einer Schranke an, ich bin erleichtert endlich aussteigen zu können, und auch Mutter will die Autotür öffnen, aber Vater schreit, ihr bleibt jetzt sitzen, bis ich den Platzwart gefunden habe, es geht gleich weiter. Und Mutter schließt die Tür wieder, aber wenigstens kann ich das Fenster öffnen.

Wir Kinder finden das Mobilheim super, und unser winziges Zimmer mit den noch viel winzigeren Betten erst recht. Und auch den Rest des Campingplatzes finden wir toll. Überall fahren Heranwachsende auf Rädern herum, es gibt ein kleines Fußballfeld, eine Gracht die das Areal natürlich begrenzt, und einen kleinen See, auf dem Jugendliche auf Surfbrettern paddeln oder vereinzelt auf Motorbooten rumdüsen. Also gehen wir schwimmen, erkunden, lernen Kinder aus weit entfernten, exotischen Orten wie Krefeld oder Recklinghausen kennen, und kehren erst zum Bungalow zurück, als dichte Schwärme von Mücken die nicht stechen um die Straßenlaternen herumschwirren.

Selbst die Eltern, die offensichtlich den ganzen Tag das Mobilheim nicht verlassen hatten, und Mutter, die wohl gerade noch geweint hatte, und auch nicht das karge Abendbrot, bestehend aus Toast mit Salami, können unsere gute Laune ruinieren und als wir dann endlich im Bett liegen, und kurz bevor meine Augen zufallen, zeigt meine Schwester mir noch, dass sie irgendwoher eine Hand voll holländischer Gulden hat, und verspricht, mich am nächsten Tag zu einer Pommes einzuladen.

Kurz nach unserer Rückkehr in die Kölner Platte verlor Vater dann seinen Job, und somit begann die Zeit, in der er richtig unangenehm wurde.