Montag, 27. November 2023

Mein Buch "Bildungsfern" ist jetzt auf Amazon als Taschenbuch und Kindle-Ausgabe erhältlich

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

mein Buch "Bildungsfern" als Taschenbuch ist jetzt auf Amazon verfügbar; eine Kindle-Version gibt es auch. 

Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre, und wenn es gefällt, freue ich mich über positive Bewertungen. 

Neue Blogposts landen wie angekündigt nur noch auf:

unterschichtblog.de 

Gas Wasser Schulze

Es sind 30 Grad und ich schwitze mir den Sack in meiner langen Arbeitshose ab.

Fängste mal um sechs schon an, dachte ich mir, dann ist es noch kühl, aber weit gefehlt. Ich bin angestellt als Hilfsarbeiter, für sechs Monate, bei Gas Wasser Schulze, einem Sanitärbetrieb, und meistens besteht meine Arbeit aus Lager- und Hofpflege, aus dem Verräumen von Werks- und Betriebsstoffen, vom LKW ins Lager, vom Lager in die Kastenwagen vor Einsätzen.

Der Job macht Spaß und ist vielfältig, ich werde in Ruhe gelassen und der Chef ist zufrieden, aber die Hitze ist in den letzten Tagen absolut brutal. Zum Glück muss ich nicht mit auf den Bau, denke ich mir, im Lager ist wenigstens Schatten.

“Jung, uns is der Stift ausgefallen, du kommst heut mit auf den Bau”, sagt mir dann um acht der Schorsch, eigentlich Georg, ein Typ dessen Oberarme so breit sind wie mein Torso, und dann sitzen wir im Kastenwagen. Wir sind spät dran, erklärt er, weil der Trupp auf den Lehrling warten wollte, der sich dann aber doch einen Gelben geholt hat, und so heizen wir über die B9, linke Spur und Vollgas, zum Kunden. Schorsch sagt ich soll ihm seine Kaffeekanne rausgeben, die liegt mit in seiner Kühltasche, in der drei Packungen Frikadellen vom Aldi und zweimal Salamisticks liegen.

Der Kunde wohnt in Godesberg, sein Schwimmbad verliert Wasser, und wir müssen ein Rohr ausgraben, im Garten, auf dem die Sonne steht und den trockengelegten Pool unerträglich aufheizt. Wir schaufeln und schaufeln und immer wieder fahre ich die Schubkarren voll Dreck weg, meine Fresse ist das viel Dreck, und die Kollegen schaffen dreimal so viel wie ich, aber ich will mich nicht bloßstellen und zeige voll Einsatz.

Irgendwann kommt der Kunde raus, fragt wie wir vorankommen, und ob wir Wasser oder ein Bierchen wollen. Es ist elf, und dennoch würde ich für ein Bier töten, aber Schorsch sagt: “Wasser reicht, danke”, und ich tu es ihm nach, um nicht gegen ein mir unbekanntes, ungeschriebenes Gesetz auf dem Bau zu verstoßen.

Dann, Mittag, Schorsch inhaliert sein Fleisch, und ich sitze im Schatten mit einer Flasche Wasser des Kunden, merke schon den Sonnenbrand, und wie schwach meine Arme werden, aber keine Zeit für Wehleidigkeit, das Rohr muss ausgetauscht werden.

Schorsch und ein Kollege, ein älterer Türke kurz vor dem Ruhestand, der hier das Sagen hat, und der permanent eine Zigarette im Mundwinkel hält, klettern ins Loch, fluchen und schimpfen, rufen nach Werkzeug. Dann kommen sie raus und der Schweißer geht rein. “Zubuddeln machen wir morgen”, sag der Türke, und mir wird mulmig bei dem Gedanken, morgen mit Sonnenbrand und Muskelkater wiederzukommen.

Gegen drei fahren wir dann zurück nach Kölle, ich tu mir leid, wegen der Hitze, und weil mein Kopf pocht und alles weh tut. Auf dem Weg stehen wir kurz im Stau, weil auf einer Spur Straßenarbeiten sind. Schorsch guckt auf die Arbeiter, die auf dem heißen Asphalt an der Straße schaffen.

“Arme Säue”, meint er nur. Schlimmer geht halt immer.

Samstag, 21. Oktober 2023

Neue Website: Unterschichtblog.de

Hi Leute, 

der Blog ist jetzt auch unter unterschichtblog.de erreichbar, mit einem etwas modernerem Design. Also passt gern eure Bookmarks an.

Die Seite wird von einem Freund, der gerne Änderungswünsche entgegen nimmt, via WordPress gehostet,  also wenn euch etwas stört, einfach hier, auf der neuen Website oder kurz bei Reddit einen Kommentar hinterlassen. 

Bisher ist die Navigation noch nicht ideal, aber darum kümmert er sich noch. Ich hätte gern einen dynamischen Footer, der immer auf den nächsten oder den vorherigen Post verweisen kann, mal sehen wie das funktioniert. 

Haut rein und schöne Woche noch! 

 

 


Temple Bar, bei Nacht

 Neuer Post:

https://unterschichtblog.de/2023/10/18/temple-bar-bei-nacht/

Samstag, 23. September 2023

Montag, 14. August 2023

Ankündigung: Ich schreibe ein Buch, Release im Oktober, Vorbestellungen offen

Rotwein und Herzschmerz sind bekanntlich kreative Schmiermittel und so war es vielleicht unumgänglich, dass ich das Buch schreiben würde, für das ich mich hoffentlich in ein paar Jahren schämen werde.

Für Leser des Blogs wird das relativ bekannte Kost sein. Eine Kurzroman über Stefan Stützes stümperhaftes Streben, seine Suche nach Erfüllung, Liebe und Zerstreuung. Interessante Menschen, Deutschlands Bürokratie, 2000er Nostalgie, etwas Witz, viel Trauer. 

Wie der Blog, nur länger und besser strukturiert und deutlich düsterer.

Das Buch wird über Amazons Kindle Direct Publishing-Programm zunächst als E-Book vertrieben, falls sich das etwas verkauft würde ich für spätestens Dezember ein Release als Taschenbuch anstreben.

Hier der Link: "Bildungsfern" auf Amazon

Vorbesteller haben vermutlich bereits eine E-Mail bekommen, der Release verzögert sich auf den 30.09.

Als kleines Geschenk und als Danke an die noblen Spender:

Jeder, der bis heute irgendeinen Betrag gespendet hat, oder von jetzt bis zum Release am 30.09. 3,00 Euro oder mehr spendet, bekommt das Buch gratis per PDF an die bei PayPal hinterlegte Adresse geschickt. Wer sein Buch bis Anfang Oktober nicht bekommen hat, oder wem das einfach zu viel Geld für ein PDF ist, möge mir eine E-Mail an namedesblogs@gmail.com schreiben, dann machen wir das so. :)

Danke, haut rein, und man liest sich! 

Geplante Termine:

- Werbefreiheit ab dem 15.07. (sollte jetzt durch sein, wenn ihr noch Werbung seht, sagt bitte Bescheid)
- E-Book Release am 30.10. 
- Buch-Release am 01.12. (allerspätestens Mitte Dezember)
- Website-Release am 01.01.2024




Samstag, 12. August 2023

Maja

An einem Abend im Herbst kam meine damalige Freundin, mit der ich mir eine kleine Wohnung mit Gartennutzung teilte, zu mir und bat mich, mit ihr nach Thüringen zu fahren, wo sie einen Hund kaufen würde.

Ich vertraute ihr blind; was immer sie tat, tat sie überlegt und sorgfältig. Das, verbunden mit dem Welpenbild, das sie mir zeigte, machte mir die Entscheidung leicht. Klar, sag ich, und am nächsten Morgen sitzen wir im Auto, sechs Stunden Autobahn vor uns, um Maja abzuholen.

Maja, ihre beiden Geschwister und ihre Eltern begrüßen uns freudig am Tor, das sympathische Frauchen kommt direkt dazu und eine halbe Stunde später sitzen wir wieder im Auto, Maja auf einer kleinen Decke, eingerollt und ängstlich fiepend, weil sie ihr Rudel vermisst.

Die nächsten Wochen (und eigentlich Jahre) ist sie Mittelpunkt unseres Lebens und wir tun alles, um ihr ein neues Rudel zu geben. Wir habens nicht weit zum Wald, gehen zwei Touren am Tag, und anfangs ist sie noch ängstlich und bleibt bei uns, aber bald schon wird Winter zu Frühling und sie wird selbstbewusst genug, dass sie eine Leine braucht. Einmal entwischt sie uns, sieht irgendwo ein Reh, und zischt ab. Tief in einem Wald in der Eifel, an einem viel zu heißen und trockenem Frühlingstag, und wir suchen und rufen eine gefühlte Ewigkeit, bis sie zurück kommt und sich völlig erschöpft neben uns auf dem Waldweg auf den Boden wirft. Sie trinkt ihren Wanderwassernapf zweimal leer, SCHLOPP-SCHLOPP-SCHLOPP, das beste Geräusch das ich kenne.

Nach den Wanderungen liege ich immer mit meinem Laptop auf dem Sofa und arbeite, Maja in der Kuhle zwischen meinen Beinen, kaut genüsslich an einem Schweineohr oder schläft, ihre Schnauze auf meinem Bein, und ich weiß, dass ich alles für sie tun würde.

Unsere Wohnung lag direkt neben meiner Arbeit, und zur jeder Mittagspause um zwölf, wenn die Glocken läuteten, lief ich rüber, um eine Runde mit ihr zu gehen. Manchmal war ich etwas zu früh dran, dann konnte ich sehen, wie pünktlich zum zweiten Glockenschlag ihr herrliches Gesicht am Fenster auftauchte, damit sie Ausschau nach mir halten konnte, und immer machte mein Herz einen Satz und immer musste ich mich beherrschen, nicht loszurennen um schneller bei ihr zu sein.

Am Wochenende ist die Freundin dann meist bei ihren Eltern, für die Maja quasi das erste “Enkel” ist, und auch sie lieben und verwöhnen sie. Irgendwann kommen echte Enkel dazu und Maja findet in den Nichten und Neffen meiner Freundin neue Spielgefährten.

Irgendwann kriselt es zwischen meiner Freundin und mir, ich ziehe an die Ahr, meine Freundin zu ihren Eltern, eine knappe Stunde entfernt von mir, und wir sehen uns fast nur noch am Wochenende, und immer wenn ich freitags komme, eskaliert Maja völlig, schießt wie eine Rakete von Raum zu Raum, oder übern Hof, und immer wieder zu mir, holt mir ein Leckerli oder einen Ball den ich werfen soll, und weicht für den Rest des Wochenendes nicht mehr von meiner Seite. Wenn ich dann gehe, am Sonntagabend, zeigt sie mir die kalte Schulter, und ich küsse sie auf die Stirn und verspreche, dass ich bald wiederkomme.

Sogar während meiner Nahtoderfahrung denke ich fast nur an sie. Einmal noch mit Maja ans Meer, wünsche ich mir nur, während um mich herum die Welt untergeht. Einmal noch mit Maja in den Wald. Bitte. “Küss Maja auf die Stirn von mir”, schreib ich meiner Freundin, bevor ich das Wasser sich mein Handy holt, aber die Nachricht geht nicht raus, und zwölf Stunden später hänge ich am Seil des Rettungshubschraubers und mir wird klar, dass mein Wunsch in Erfüllung geht. Nur zwei Wochen später sind wir in der Bretagne am Strand, und Maja schießt über den Sand und jagt ihren Ball, zeigt uns ganz aufgeregt eine Krabbe, vergisst immer wieder, dass das Wasser salzig ist und ich bin unendlich dankbar für jeden Tag und jeden Moment.

Dann ziehe ich zu den beiden, meine Wohnung ist ja weg, und wir haben noch ein gutes Jahr zusammen, viele Ausflüge zu dritt, viel SCHLOPP-SCHLOPP-SCHLOPP an Sommertagen im Wald, aber ich merke immer mehr, dass meine Freundin eigene Kinder will, dass Maja und die Neffen und die Nichten die Lücke nicht mehr füllen können, und so trennen wir uns, und ziehe ich weiter gen Norden.

Noch immer hat Maja ihr riesiges Rudel. Die große Familie meiner Ex, haufenweise Kinder jeden Alters, ihre Eltern und Geschwister, deren Partner, deren Kinder und Hunde und bald auch eine eigenes Baby; ich bin sicher Maja wird gut darauf aufpassen.

Und wenn es mir schlecht geht, und ich traurig bin und sie vermisse, und wenn ich mir wünsche sie würd wieder in der Kuhle zwischen meinen Beinen schlafen, dann finde ich Trost darin, wie gut es ihr geht, auch ohne mich.

Montag, 7. August 2023

Sandy und die Scorpions (zweiter Versuch)

Re-Upload, weil ich mit der ersten Version nicht zufrieden war. Verwirrend und zu lang. Der Abend hatte einen besseren Text verdient, also nochmal:

___

Alter, das ist doch nicht Final Destination, sag ich zu Kevin.

Kevin kannte Sandy, die ein Jahr älter als wir war und gerade die Hauptschule abgeschlossen hatte. Sie arbeitete in einem kleinen, einsaaligen Kino und durfte sowohl die Filme auflegen als auch das abscheuliche Fertigpopkorn in Plastikbeuteln und die Getränke verkaufen. Das Kino war immer schwach besucht - Jahre zuvor hatte ich darin die Prämiere des Pokémon-Filmes mit weniger als 20 Menschen gesehen - und auch an diesem Tag war nichts los.

Sandy hatte uns reingelassen, irgendeinen langweiligen deutschen Film angemacht und sich zu uns gesetzt. Außer uns dreien sitzt nur ein erwachsener Typ in der letzten Reihe im Saal. Wir trinken mitgebrachtes Bier. Kevin sagt ich solle mich nicht so anstellen, er habe halt jemanden gebraucht, damit Sandys Freundin nicht allein ist und wäre ich mitgekommen, wenn er nicht Final Destination versprochen hätte?

„Welche Freundin denn?“ frag ich. Halb genervt, halb erleichtert, denn mit einem Date hatte ich nicht gerechnet. „Die ist schon oben und pennt. Lernste später kennen“ sagt Sandy. Ich bin verwirrt, weiß nicht, was „oben“ bedeutet, und bin verunsichert. Mit einem Date hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Mir wird meine ranzige, schlecht passende, unmoderne, kratzige Kleidung, die Vater kiloweise auf einem Fälschungsflohmarkt in Prag gekauft hatte, schmerzlich bewusst. Und so geht der Film vorbei, und ob man es auf die vergangene Zeit oder die Nervosität schieben möchte, ich erinnere mich nicht mehr, was wir da genau gesehen haben. 

Nach dem Film gehen wir „nach oben“. Sandy wohnt direkt über dem Kino. Im dreckigen, altmodischen Treppenhaus mit einer knarzigen Holztreppe gibt es drei Türen. Sandys Zimmer, das Zimmer ihrer Mutter, und ein fensterloses Bad, dessen Tür anscheinend entfernt und durch ein Laken ersetzt wurde. Eine Küche haben die wohl nicht. Der Erwachsene aus dem Kino folgt uns die Treppe herauf und verschwindet dann im Zimmer von Sandys Mutter. Ich bin zu angetrunken, um die ganze Situation befremdlich zu finden. 

Sandys Zimmer ist spartanisch eingerichtet. Eine Deckenlampe gibt es nicht, nur eine Nachttischlampe, die auf dem Boden steht, eine große Matratze, und auf der Fensterbank ein Fernseher mit Videospieler. Auf dem Bett liegt ein dicker Ghetto-Blaster, daneben ein dickeres Mädel, das deutlich älter aussieht als wir. Das schläft tief und bemerkt unser Eintreten nicht, bis Sandy sie mit dem Fuß anstößt. “Ich hab dir was mitgebracht“. Sie lacht und ich verstehe nicht, dass sie mich damit meint. Während ich über das schlafende Mädel steige, um einen Platz auf der Matratze zu ergattern, macht Sandy Musik an. Ich wünsche mir Linkin Park, Kevin wünscht sich Scooter, Sandy entscheidet sich für die Scorpions. Die Musik weckt die Schlafende, von der ich lerne, dass sie Kathi heißt und an einer Tanke jobbt, auf und während sie sich mit uns unterhält, bemerke ich immer wieder, dass sie mich etwas abschätzig und enttäuscht beäugt. Wir labern, trinken, witzeln, die Mädels rauchen, Kathi döst wieder weg, mitten im Gespräch und Sandy ist offensichtlich unbesorgt.

Irgendwann läuft „Winds of Change“ von den Scorpions, Sandy drückt den Repeat-Knopf und löscht das Licht. Für einen Moment sind wir andächtig und lauschen. Gemeinsam, aber doch jeder für sich allein. Betrunken, jung, ziellos.

Als sich das Lied zum siebten oder zwölften Mal dem Ende zuneigt, höre ich Geschmatze vom anderen Ende der Matratze. Ich bin etwas traurig, Rolle Kathi zur Seite und versuche zu schlafen. Das Lied beginnt von Neuem…

„The world is closing in…” Das Geschmatze wird energischer. „The wind of change blows straight…”. Kathi schnarcht in meine Richtung. Trotz der Geräuschkulisse schaffe ich es, irgendwann halbwegs einzudösen. Im Halbschlaf nehme ich irgendwann wahr, dass auch Kevin laut schnarcht und bin erleichtert, dass es zwischen ihm und Sandy wohl nicht weiter eskalieren wird. „Listening to the winds of change“. Wortwörtlich. Mein Kopf dröhnt vom Bier, vom Zigarettenrauch, vom Song den ich mittlerweile hasse, von den leicht fluoreszierenden stern- und mondförmigen Aufklebern, die die Decke schmücken. „Where the children of tomorrow dream away… “

Plötzlich bin ich hellwach. Ein warmer Körper liegt auf mir. Oh Gott nein, Kathi? Nein, Sandy. Aber warum? Hat sie nicht gerade noch mit Kevin rumgemacht? Hab ich mir das eingebildet?

Sandy küsst mich, mein erster richtiger Kuss. „On a glory night…“ Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, aber lege instinktiv meine Hände auf ihren Rücken. Habe ich jetzt wohl eine Freundin? Wieso hat sie doch lieber mich als Kevin genommen? Sie schmeckt nach Bier und Rauch und ich frage mich, wie widerlich ich erst schmecken muss. Genießen kann ich die Situation nicht, bin zu verwirrt um geil zu sein. Nach etwa drei Strophen hat sie wohl genug von meinen unbeholfenen Kussversuchen und klettert runter von mir. Dann sagt sie, ich könne mir Kathi nehmen, die würde sich darüber freuen.

Ich bin verwirrt. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, der Einladung zu folgen. Aber die ist doch kaum zurechnungsfähig, denke ich mir. Und selbst als sie noch wach war, schien sie überhaupt nicht begeistert von mir. Und überhaupt, warum will Sandy mich denn jetzt an ihre Freundin abgeben? Noch ein paar Strophen später und Kevins Schnarchen wird wieder durch sein und Sandys Schmatzen ersetzt.

Gegen sechs merke ich, dass es draußen langsam hell wird. Der Ghettoblaster ist mittlerweile aus, Batterien sind wohl leer. Ich klettere wieder über Kathi, verlasse das Zimmer, gehe pissen. Aus einer Jeans, die im Bad auf dem Boden liegt, zocke ich eine halb leere Schachtel Kippen  und komme mir dabei rebellisch vor. Draußen merke ich, dass mein Rad - das ich selbst am Bahnhof hatte mitgehen lassen - gestohlen wurde und zünde mir eine Kippe an. Ich ärgere mich, aber die Lektion ist an mich verschwendet.

Ich spaziere nach Hause und fühle mich beraubt. Eigentlich hätte ich lieber Final Destination gesehen.

Freitag, 4. August 2023

Sergei gegen die Physik

Wie Sergei bei der Jobcenter-Maßnahme gelandet war, konnte wohl niemand genau sagen.

Seine Geschichte dazu, gleich Tolkiens Magnum Opus, "grew in the telling". Zuerst erzählte er nur, er habe den Job als Komissionierer, gut bezahlt durch Nachtschichten und Wochenenden, gekündigt, weil er Vater wurde und mehr Zeit für die Erziehung haben wollte. Fragwürdige Entscheidung, glaubhafte Geschichte. Je nach Gemütszustand wurde seine Kündigung aber immer anders ausgeschmückt. Mal kündigten all seine Kollegen aus Solidarität, mal prügelte er sich mit dem Chef auf dem Parkplatz (oder, wenn er milde gestimmt war, wurden dem Chef nur Prügel angedroht), mal ging die Firma pleite und der Chef verkaufte einen seiner fünf Sportwagen, um wenigstens noch Sergei, dem besten Pferd im Stalle, schwarz ein dickes, letztes Gehalt zu zahlen. 

Wie auch immer Sergei beim Jobcenter gelandet war, seine Präsenz in der Maßnahme war eine Bereicherung. War Ronny, "der Professor" noch der Einäugige unter den Blinden, war Sergei genauso dumm wie der Rest von uns. Nicht dümmer, aber definitiv nicht klüger. An einem Tag hatten wir das Modul "Englisch in der Informatik", und es stellte sich als Fehler heraus, Sergei ein Wörterbuch zu geben. Welche Wörter wir denn schon kennen, fragte der Dozent, während Sergej wild blätterte, und dann ruft er rein "breast" (und spricht es wie "beast" aus),  und kichert dann vor sich hin, bis er das nächste Wort findet, das er als reinrufenswürdig empfindet, "ass", und kichert wieder, und der Dozent hasst wohl sein Leben.

Weil wir die einzigen Nichtraucher waren, hing ich manchmal mit ihm in der Pause rum. Er verstand schnell, dass ich nicht allzu interessiert an seinen Erzählungen über sein neues Baby war, und so erfand er irgendwelche Heldentaten oder Abenteuer, die ihm passierten, meisten orientiert am Fernsehprogramm des letzten Tages. Einmal erzählte er mir, dass er als Jugendlicher deutscher Meister im Breakdancing wäre, und dass sein Tänzername "B-Boy Sergei" gewesen wäre, eine Lüge die so random und übertrieben war, dass ich ihn einfach auslachen musste. Am nächsten Tag brachte er dann einen eingerahmten Zeitungsartikel mit, ja, so richtig im Bilderrahmen, und siehe da, da stand er, in einem Outfit straight aus 8-Mile, zwischen ein paar ähnlich gekleideten Buben, seinem Meisterschaftsteam im Breakdancing. Seltsam, denke ich, und frage mich, welche seiner Geschichten wohl noch wahr gewesen sind.

In irgendeiner Pause hängen wir im heißen Schulungsraum rum, draußen sind hundert Grad und drinnen nur fünfzig, deswegen bleiben wir drinnen, und Sergei kommt rein, mit seiner Lederjacke, in den Händen eine Schüssel mit Milch, bis zum Rand gefüllt, sodass er sich nur mit Mikroschritten, jeder einzelne für das bloße Auge kaum wahrnehmbar, aber in Summe doch eine Vorwärtsbewegung ergebend, seinem Tisch nähern konnte. Der Dozent guckt nur fassungslos auf die Milchschüssel, dessen Inhalt nur durch Oberflächenspannung gehalten wird, aber nach quälenden Minuten hat die Schüssel wider jeder Erwartung den sicheren Tisch erreicht. "Das kann doch nicht dein Ernst sein!" schreit der Dozent, aber Sergei kann ihn beruhigen. Er holt eine Packung JA! Choco Chips Frühstückscerealien raus, keine Sorge, die saugen die Milch schon auf. 

Es endet wie es enden muss, mit einem nassen, klebrigen Tisch, einem wütenden Dozenten, und einem verwirrten Sergei, der vorwurfsvoll auf die Cerealienpackung guckt, als fasse er die mangelnde Saugkraft der JA! Choco Chips als persönlichen Verrat auf.

Drei Tage noch bin zum Ende der Maßnahme, drei Tage noch, drei Tage noch...

Samstag, 15. Juli 2023

Ankommen

Sommer 2019. Nach einer turbulenten Trennung und einem viel zu heißen Sommer zwischen Autos und Beton hatte ich genug vom Stadtleben und suchte mir eine günstige Wohnung in einem winzigen Weindorf gute fünfzig Kilometer von der Heimat entfernt.  

Die Besichtigung konnte ich mit einer langen Radtour zuerst den Rhein herauf verbinden, bis ich an ein kleines Flüsschen, das im trockenen Juni das Flussbett nicht füllen konnte, ankam. Dieses radelte ich weiter herauf und mit jedem kleinen Dorf wuchs meine Begeisterung. Alles war grün, der Radweg perfekt gepflegt, und das Tal, anfangs weit und offen, wurde stellenweise richtig eng, sodass man zwischen steilen Felswänden durch fährt. Die umliegenden Hügel, voller Weinreben, und weiter oben, Nadel- und Mischwälder.

Dann, das Zieldorf. Der Radweg führt durch einen 235 Meter langen Tunnel unter einem riesigen Felsen und wilde Reben hängen bis kurz über Kopfhöhe über dem Weg. Der Tunnel ist schwach beleuchtet und rechts gehen abgesperrte Schächte tiefer in den Stein. Für einen Moment genieße ich die Kühle, dann verlasse ich den Tunnel und der Anblick nimmt mir die Luft. Ein alter Bahnhof, unten Sandstein und oben Fachwerk, links die Weinberge, rechts das Flüsslein, weiter rechts, mehr Weinberge. Das Dorf macht sofort einen Eindruck von Beständigkeit, davon, dass es über hundert Jahre entstanden ist und sich wohl auch die nächsten hundert Jahre nicht groß verändern wird.

Das Haus liegt in einer engen Kurve in einer Straße die nach dem Rotwein benannt ist, der dort angebaut wird, über einer alten Weinstube, die nicht mehr betrieben, aber weiterhin liebevoll gepflegt wird. Im Fenster hängt noch ein Menü, darunter eine andächtige Nachricht, die sich bei den Gästen bedankt und schweren Herzens die Schließung der Weinstube ankündigt. Man sieht ein altes Klavier, das über Jahrzehnte die Gäste unterhielt, und Sitzmöbel, die gemütlich und urig aussahen. 

Tradition in jeder Fuge, und auch hier, Beständigkeit, Ruhe.

Der Vermieter ist direkt sympathisch, spricht zuerst mit dem örtlichen Akzent aber wechselt alsbald zu Hochdeutsch, und gute fünfzehn Minuten vergehen, bevor ich überhaupt die Wohnung sehe. Er erzählt mir stolz die Geschichte des Hauses, das sein Vater im frühen 20. Jahrhundert gebaut hatte, wie der Neubau entstanden ist, wie der Altbau zur Weinstube umgewandelt wurde, die der Vermieter und seine Frau betrieben, und wie er selbst eine Schlosserei im Keller hatte. Aber nun waren auch die Vermieter alt, die Weinstube geschlossen, die Kinder weggezogen, die Schlosserei bloß noch ein Hobby in einer Werkstatt hinterm Haus, wenngleich mit viel Liebe betrieben. 

80 Jahre Geschichte, zehntausende Arbeitsstunden, und das Leben dreier Generationen und unzähliger Gäste in einem Haus.

Die Wohnung war okay, ist hier nicht interessant, aber der Ausblick aus dem Fenster war unbeschreiblich. Direkt hinterm Haus, ein Walnussbaum. Uralt, und seine Äste voller fetter Früchte, wuchs er direkt aus dem Fluss, der gerade nur ein Bach war, aber dennoch hörbar vor sich hinplätscherte. Auf der anderen Flussseite, eine Felswand, relativ Steil und doch voll von Wein und mit einem alten Rebenaufzug. Und ganz oben auf dem Hügel, eine kleine Burg.

“Wollense noch ‘ne Nacht drüber schlafen?” fragt mich der Vermieter, aber ich schlage direkt ein.

Vor der Heimreise sitze ich noch ein wenig hinterm Haus am Bach, sauge die Ruhe und Beständigkeit ein wie ein Schwamm. Und während ich dem Plätschern der Ahr zuhöre, denke ich nur:

“Ja, hier will ich bleiben”. 

___

Ein Abend, gute zwei Jahre später. Um acht reißt der Fluss die Fensterscheiben aus dem Erdgeschoss, die Weinstube, das Klavier, zerstört. Gegen neun wird das Dach der Werkstatt weggerissen, kurz darauf gibt auch der alte Walnussbaum nach. Meine Wohnung, im ersten Stock im Neubau, steht knietief unter Wasser. Der Altbau hält sich tapfer, noch so bis Mitternacht, dann stürzt auch er ein. Teile des Neubaus stehen noch bis zum nächsten Tag, sonst könnte ich das hier nicht schreiben.

Heute ist da nur noch ein Schotterparkplatz. 

Bilder:

 

mein Bild



Bild aus Spiegel-Doku


Samstag, 8. Juli 2023

Dani (kurze Leseprobe)

„Ich mag deine Stimme!“

Das war ihre erste Nachricht, und das Netteste, was ich in einer langen Zeit gehört hatte. „Und wenn wir schon dabei sind, ich mag es, wie du im Gildenchat schreibst!“

Das war so 2008. Sie war in meiner WoW-Gilde und manchmal hörte man sie im Voice Chat als einziges Mädel unter 24 Jungs Taktiken erklären oder inkompetente Heiler zusammenstauchen.

Sie war etwas jünger als ich, aber während ich beim REWE Kartons gefaltet oder in einem Lager Prospekte verschickt hatte, hatte sie ihr Abitur gemacht. Sie erzählte mir, dass sie unweit von mir in Bad Godesberg, damals für mich der Inbegriff einer noblen Gegend, wohnte, gerade ein FSJ plante und danach nach Zürich ziehen würde, um zu studieren. Irgendwas mit Robotern, oder KI oder so. Eine Lebenswelt, von der ich wenig verstand. Und irgendwann kam die gefürchtete Frage, was ich denn so mache, und mir fiel keine gute Antwort an, also blieb ich bei der Wahrheit. „Also gerade schaffe ich in einem Call Center, aber ich mache nebenbei den Real-Abschluss nach.“ Und ich war sicher, dass sie nun wegrennen würde.

Aber sie rannte nicht weg: „Soll ich dich mal besuchen kommen?“

Besuchen. In meiner Wohnung? Die gänzlich schmucklose Wohnung in der Kölner Platte, die weder ein Sofa, noch einen Fernseher hatte? In der es außer einer Hand voll Schulheften kein Buch gab, keine Pflanzen, einen Duschvorhang als Badezimmertür und nur eine weiß Gott wie alte Matratze als Bett? „Na gut“, schrieb ich, „aber ich befürchte du wirst dann wegrennen.“

Aber sie rannte nicht weg. Wir saßen auf der Matratze und tranken Bier und redeten als hätten wir nicht in den jetzt Wochen jede freie Minute miteinander geplaudert und in tausend Fragen und Antworten und kleinen Pausen und Gesten und Blicken war nicht ein Hauch von Vorwurf, kein Anzeichen von Ekel, kein Hinweis darauf, dass sie mich auf Grund unserer unterschiedlichen Lebensumstände als niedriger betrachtete.

In den nächsten Monaten merkte ich häufig, dass sie versuchte, mich zu fördern. Schon am Anfang brachte sie bei mir ihr Scrubs-Boxset unter und zwang mich, die Folgen mit ihr auf Englisch zu gucken. Anfangs noch mit Untertiteln, später ging es ohne. Und heute würde ich nie wieder eine Comedy übersetzt schauen.

Wir wussten immer, dass unsere Zeit zusammen begrenzt war. Sie hatte ihren Studienplatz in Zürich, und ich hätte nie mit ihr mithalten können, selbst mit der größten Motivation, denn sie wuchs deutlich schneller als ich. Während ich nach der Arbeit binomische Formeln paukte und dem Wissen der achten Klasse hinterherrannte, bereitete sie sich auf ihr Studium und lernte die Art von Mathe, die ich auch heute nicht verstehen würde. Die Weichen waren gestellt.

Bevor sie ging, schenkte sie mir ihren „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“, was zu einem meiner Lieblingsbücher werden sollte, und beim Lesen merkte ich, dass einige Vokabeln, nach denen ich sie beim Scrubs-Schauen gefragt hatte, markiert waren. Als hätte sie sich jede davon gemerkt und später im Buch gefunden.

Mein Buch hat noch einige Seiten, und ich am liebsten würde ich die Überraschung verderben und sagen, dass Dani im dritten Drittel wieder auftaucht, dass wir uns wiederfinden, dass wir zusammen in einem kleinen Haus mit Garten und einem Hund an der See leben. Aber Dani ist jetzt Dr. Dani, und der Nachname ist anders, und sie lebt noch in der Schweiz, und ich glaube sie mag auch gar keine Hunde, aber getroffen habe ich sie seit unserer kurzen Begegnung nie wieder.

Freitag, 30. Juni 2023

Pissdisking

Manche Fragen stellten sich fast jedem Teenager mal: wie geht es nach der Schule weiter, wie gefalle ich dem anderen Geschlecht, wie erzähle ich meinen Eltern von der schlechte Note?

Andere Fragen stellten sich wohl nur mir: wie pisse ich Ingo Berg, genannt Ingeborg, in den Briefkasten? 

Die Idee ließ mich nicht los. Nachdem Ingeborg mir eine CD mit fürchterlichem Inhalt untergejubelt - und mich damit vor mindestens einem Elternteil fürchterlich blamiert hatte - wollte ich Rache. 

Ingeborg lebte mit seinem Bruder einer eigenen kleinen Wohnung im Souterrain im Haus der Eltern, mit eigenem Briefkasten, und Kevin hatte die Idee, dass wir Hundestuhl sammeln und beim ihm in den Briefkasten werfen könnten.

Die Idee gefiel mir nicht. Erstens störte mich die Vorstellung, draußen rumzulaufen und Stuhl zu suchen. Das fand ich würdelos und nicht elegant. Außerdem verlangte die Ehre: wenn Exkremente in Ingos Briefkasten landen, so sollten es meine sein. Aber wie?

So ging ich dann mal am Wochenende an Ingeborgs Haus vorbei, um die Lage zu checken. Diese war ernüchternd: der Briefkasten des kleinen Einfamilienhauses war deutlich außerhalb meiner Reichweite, und zudem von der Straße aus sehr sichtbar. Also zurück zu Kevin geradelt, der gerade mit seinem Cousin aus dem Ruhrpott Nintendo zockte, und das Problem beschrieben. 

Der Cousin, ohne zu zögern, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt:  "Ja dann musst du den halt pissplatteln." Was? "Ja pissplatteln. Also Pisse in einer Rohlingspindel einfrieren und die Pissplatte dann den Briefschlitz stecken."

Es war so elegant. Es war so stilvoll. Es war, so darf ich heute sagen, fast schon nobel. Als würde ich ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. CD-förmige Rache. Gelbe, gefrorene Gerechtigkeit. 

Und wie es der Zufall will, hat Kevin in seiner Garage eine große Gefriertruhe, und so frieren wir unsere Pisse in zwei Spindeln von CD-Rohlingen ein. Kevin hat zwar keine Rachegelüste, aber wie ein Golden Retriever will er einfach dabei sein und mitmachen. 

So ziehen wir los, perfide Postboten der Pisse. 

Nach der Lieferung frag ich Kevin, wer seine Zustellung erhalten hat, und Kevin erklärt, dass er sich einen beliebigen Nachbarn ausgesucht hat, damit das Verbrechen willkürlich wirkt, damit niemand auf uns kommen kann. Ich halte die Logik für so wasserdicht wie die Deckel der CD-Spindeln, aber weil wir dumme Teenager sind, können wir es natürlich nicht bei unserem perfekten Verbrechen belassen. 

Stattdessen machen wir "Pissdisking" (denn wir sind cooler und moderner als die Ruhrpottkinder) zu einer Art Sport. Täglich landen irgendwo unsere Disks in irgendwelchen Briefkästen. Jede leichte Provokation wird mit einem nassen Briefkasten geahndet, und für jeden Racheakt kommen drei weitere, widerlich-willkürliche Zerstörungsakte hinzu.

Dann flogen wir zu nah an die Sonne, Peekarus, sozusagen:

Statt es einfach dabei zu belassen, gingen wir zu Ingo, um uns mehr leere Spindeln zu besorgen. Durch seinen Bruder hatte er davon haufenweise über. Die Dreistigkeit dieser Idee gefiel mir besonders und nach ein paar Wochen hatten wir zehn Spindeln zusammen. Um beim Verteilen der Pissdisks nicht aufzufallen, haben wir sie Prospekte gesteckt und sahen für Beobachter aus, wie Jungs die sich etwas Taschengeld dazu verdienen. 

Bis uns einer von Ingos Nachbarn, unser erstes willkürliches Opfer, bei frischer Tat ertappte. 

Prospekt in den Briefkasten, Tür geht auf, der Herr nimmt die Pissplatte direkt aus dem Briefkasten, sieht uns, wir rennen weg. Er erzählt die Geschichte rum, von den Jungs die CDs auf Pisse in Briefkästen verteilen, und irgendwie hört Ingo davon - und zählt natürlich eins und eins zusammen. 

Irgendwann radel ich dann nach der Schule nach Hause und Ingos Bruder fängt mich ab, verpasst mir die Prügel meines Lebens. Verdient? Ja, vermutlich. 

Der Pitch (Jochen, Teil 2)


"Meine Eltern kommen heute vorbei", sagte meine Freundin, Domi, und sofort ging meins Puls hoch. 

Zweimal hatten uns ihre Eltern besucht. Es ging beide Male um Geld. Einmal wollte uns ihre Mutter zeigen, wie man richtig einkaufen geht. Da hatten wir gerade unsere erste eigene Wohnung, waren fast volljährig, und ihre Mutter, um guten Willen zu zeigen, wie ich dachte, ging mit mir zu Aldi. Sofort merkte ich, dass ich von der Frau nichts lernen konnte. "Nimm doch diese Teewurst, die kostet 20 Cent weniger." Ja, aber ist halt auch nur halb so viel drin. "Nimm am besten die Eigenmarke, die ist billiger." Ja danke, ich bin ja auch zum ersten Mal in einem Laden... An der Kasse angekommen legte sie dann zwei Schachteln Kippen mit aufs Band, "so als kleines Dankeschön für die Hilfe", sagte sie. Und ich sagte das könne sie vergessen, und dass ihre Tipps nutzlos waren, und dass sie mich nur ausnutzen wollte.

Beim zweiten Mal wollte Jochen mir ein Geschäft vorschlagen, und ich müsste nur 150 € investieren und er würde es in sechs Wochen verdoppeln. Er habe ein Händchen für sowas. Wenn er ein Händchen für sowas hätte, warf ich ein, wieso muss er sich dann 150 € von einem arbeitslosen Teenager leihen? Diplomatie war nicht meine Stärke, aber mein Bullshit-Detektor war präzise kalibriert. Die Frage passte ihm gar nicht, und er warf mir Arroganz und Geiz vor. Dass ich beim besten Willen keine 150 € gehabt hätte, erwähnte ich erst gar nicht.  

Ich hatte schon damit gerechnet, dass Domis Eltern bald aufschlagen würden, denn ich hatte, zum Teil durch Aufstocker-Jobs, von denen ich nur 100 € im Monat behalten durfte, genau 1250 € für den Führerschein auf einem Sparbuch geparkt. Einen nicht unerheblichen Teil dieser Summe hatte ich also mit Arbeit verdient, für die ich effektiv nur 1-2 € die Stunde bekam. Das Sparen hatte deutlich über ein Jahr gedauert, und ständig hatte ich mich bei Domi darüber beschwert, wie viele Stunden ich nun schon investiert hatte, was ich mir alles nicht gekauft hatte, und wie lange ich mich schon auf die mit vielen Arbeitsstunden erkauften Fahrstunden freute.

Und so kam es, wie es kommen musste, und Domis Eltern, mit den beiden Spikes im Schlepptau, die Mutter dürr und dreckig, der Jochen fett, beide eckzahnlos, saßen in unserem winzigen Wohnzimmer auf dem Sofa, Domi und ihre Eltern rauchend, die armen Spikes gleich passiv mit, und ich genervt, dass ich nicht WoW zocken konnte. So begann der erbärmlichste Investment-Pitch der Geschichte:

"Wir haben eine Geschäftsidee", erklärte Jochen dann, und erzählte davon, dass er Kaugummiautomaten aufstellen wollte, zuerst in seiner Nachbarschaft, aber dann, im großen Stil, auch in Köln in der Innenstadt und vor Supermärkten und so, und mit anderen Süßigkeiten, und später auch mit Zigaretten. "Dürft ihr das überhaupt?" frag ich, und Jochen, genervt, dass ich mich mit Details beschäftige, denn er will zum Punkt kommen, sagt: "Ja wer soll denn was dagegen haben?"

Die Idee könnte klappen, aber das Geschäftskonzept ist überhaupt nicht durchdacht. Er rechnet kurz vor, ein Kaugummi kostet im Einkauf X und im Verkauf Y, also ist Y-X purer Gewinn. Passives Einkommen, sozusagen, obwohl das damals noch kein Modebegriff war. Und was kosten die Automaten, frag ich,  aber "das ist ja nur eine einmalige Investition". Und wenn der geklaut wird? "Ja hast du schonmal einen geklauten Kaugummiautomaten gesehen?" Und was ist mit Spritkosten, und muss man da nicht Steuern zahlen oder so? Aber all die Details nerven Jochen, er will nur zum Punkt kommen: 

"Egal, auf jeden Fall brauchen wir noch einen Investoren. Für die Automaten erstmal. Da haben wir natürlich an dich gedacht." Natürlich, liegt ja auf der Hand. "Wir brauchen nur noch 1250 €".

Und als er die Zahl nennt, werde ich erst traurig, dann wütend, dann wird mir klar: wenn ich irgendwie rauskommen will aus all der Scheiße, aus der Armut, weg von den Scheißjobs, von den Kippen und der Sinnlosigkeit, von der Wehmut die ich jeden Abend verspüre, wenn ich wieder den ganzen Tag verzockt habe, muss ich weg von ihr. Zusammen kommen wir da nicht raus, alleine habe ich vielleicht eine Chance. 


Samstag, 24. Juni 2023

Busfahrersohn

Im Leben eines Kindes kommt irgendwann die Erkenntnis, dass die Eltern nicht allwissend sind. 

Mich hat diese Einsicht erwischt, als ich so fünf oder sechs Jahre alt war. Ich fuhr mit meinem Vater durch das Ruhrgebiet und - warum auch immer - mir stellte sich die Frage, wo eigentlich Wolken herkamen. Wie jede Frage, die nichts mit LKWs zu tun hatte, nervte sie meinen Vater, der eigentlich nie was wusste, das aber sicher. 

Seine Antwort: na aus den Kühltürmen, siehst du doch, und zeigte auf einen Kühlturm eines Kraftwerkes an dem wir vorbeifuhren. Und ich, der Sechsjährige, fand das für einen Moment plausibel, man sieht es ja, da kommen ja Wolken raus, und die gehen auch nach oben. 

Aber irgendwas störte mich an der Erklärung. Zu der Zeit war ich großer Fan von Dinosauriern, und ich hatte einige Dinobücher von Verwandten geschenkt bekommen. Und eins wusste ich sicher: zur Zeit der Dinos gab es noch keine Menschen, aber es gab schon Wolken. 

Als dann die Schule anfing, hatten wir solche Momente häufiger. Eine Rechenaufgabe, die ich nicht verstand? Frag deine Mutter. Ein schwieriges Wort in einem Text? Lass mich damit in Ruhe. Besonders gegenüber meiner neuen Leidenschaft, dem Lesen, war er sehr skeptisch. Alles was er nicht verstand war pauschal "schwul". Alles Sinnliche, oder Intellektuelle, oder Künstlerische. Einmal kam ich mit einer Notiz von Frau Bauer, meiner Klassenlehrerin, nach Hause. In meinem Schreibheft, ein glitzernder Sternsticker, daneben der Satz: "Prima, Stefan, du hast heute sehr gut vorgelesen!"

Aber anstatt Lob zu kassieren, und vielleicht ein "weiter so", oder ein "was hast du denn vorgelesen?" kam nur die Anmerkung, dass ich ja auch eine Schwuhctel sei, und überhaupt, warum lernt man denn nicht mal was richtiges in der Schule? Beim nächsten Vorlesen war ich dann zögerlicher. 

Dass seine Kinder kein Interesse an seinem Hobby zeigten, nervte ihn tierisch. Manchmal versuchte er, uns in seinem Hobbyraum, der eigentlich ein Kinderzimmer sein sollte, sein fürchterliches Hobby nahezubringen: Modell-LKW lackieren und in Vitrinen ausstellen. Wir hassten das Hobby. Natürlich fanden wir es zutiefst langweilig und stupide, aber mehr noch nervte es uns, dass wir uns ein Zimmer teilen musste, damit die "Modell-KWs" ihr eigenes Zimmer haben konnte. 

Irgendwann sah ich ihn über einem Brief vom Sozialamt brüten. Das war nachdem er seinen Job verloren hatte und ich schon fast mit der Grundschule durch war. Und wie ich ihn da sitzen sah, mühsam Wort für Wort lesend, und die Lippen bewegend, zurück zu Satzanfängen springend, weil er den Faden verloren hatte, tat er mir irgendwie leid. Dann bemerkte er mich, fühlte sich ertappt, schrie irgendeine verletzende Obszönität, drohte mit Gewalt wenn ich nicht verschwände, und alles Mitleid war vergessen.

Einmal, in den Sommerferien, durften meine Schwester und ich in ein Ferienlager fahren; die lokale evangelische Kirche hatte Unterschichtskindern einen Zuschuss gezahlt. Meine Schwester fand sofort Anschluss bei den größeren Kindern, aber ich hatte es schwerer. Die anderen Kindern, meist junge Teenager, hatten ein gutes Gespür dafür, wer die Bezuschussten waren und die freiwilligen Betreuer halfen auch nicht gerade. Irgendwann gab es eine Vorstellungsrunde, und der kleine Stütze wurde natürlich gefragt, was sein Vater beruflich macht. Oh Gott. Jede Frage, nur nicht diese. Die Wahrheit war keine Option, zu sehr schämte ich mich für den kleingeistigen Vater, der nichts als seine LKW kannte, dessen liebe für seine "Brummis" tief in die Freizeit reinragte. Der keine Neugier besaß, und keine Ambitionen, bequem und fett und fies. 

Also musste eine Lüge her. Arzt, oder Zoodirektor, oder Buchhalter, alles was nobler, oder interessanter, oder wenigstens besser bezahlt wäre. Doch kein Beruf fällt mir ein, und ich haue raus: "Busfahrer"

Vereinzeltes Kichern, ich werde rot. Ich sehe mich flehentlich nach meiner Schwester um, die so tut als kenne sie mich nicht, und irgendjemand brüllt "Busfahrersohn!" Schallendes Gelächter und ich habe einen Spitznamen für den Rest des Ferienlagers. Nach zwei Wochen, vielleicht warens auch vier, holt Mutter uns am Pfarrhaus ab. Meine Schwester küsst ihren neuen Freund energisch und mit Zunge zum Abschied und irgendein Kind ruft "Schönen Urlaub noch, Busfahrersohn" zu mir. Mutter registriert beides nicht, und wir fahren zurück in die Platte. Arbeitet Vater heute, frage ich, und halte bis zur Antwort die Luft an. 

Sonntag, 11. Juni 2023

Der Sub-Sub-Subunternehmer

Kennt ihr diese Jobs, die nur existieren, um irgendeine alberne gesetzliche Anforderung zu erfüllen?

So eine Stelle hatte ich 2013-2014. Ein typischer Arbeitstag sah etwa so aus:

Abends ruft mich die Dispatcherin an, "kannst du morgen nach Nürnberg fahren?"

Okay, sag ich, und bete, dass es kein Druckerumzug ist. "Ist ein Druckerumzug, bitte den Kollegen in Karlsruhe abholen."

Also gehe ich am nächsten Morgen zu Sixt, Mietwagen steht bereit, ab jetzt "verdiene" ich Geld. 

Fahre also nach Karlsruhe. Da hole ich den Kollegen ab, ein Kettenraucher Namens Sergejy oder Ivgeniy Prktologowyzc.

Zusammen fahren wir dann von Karlsruhe nach Nürnberg zu einer Liegenschaft der Bundeswehr. Die haben einen IT-Dienstleister, damals die BWI, heute keine Ahnung, die wiederum einen Logistiker haben, der wiederum einen Personaldienstleister hat. 

Für die letzte Firma in der Kette (die auf "Consulting" endet, falls hier ein früherer Kollege mitliest) arbeitete ich, und verdiente 8,25 € die Stunde. Verkauft wurde ich als "IT Systemtechniker" oder was auch immer, für 39 € die Stunde. Die Verträge waren auf Tagesbasis, also für jeden Auftrag musste ich einen neuen Vertrag unterschreiben. 

Ein guter Tag lief so: zu Sixt radeln, manchmal zu Enterprise, Auto mieten, von HD nach Koblenz oder Bonn, einmal sogar nach Hamburg, in einer Liegenschaft Maus und Tastatur oder ein HDMI-Kabel austauschen, und wieder fünf Stunden nach Hause fahren. Da schätzt man sein Tageswerk: den Steuerzahler 250+ € kosten, dabei selbst kaum Kohle kriegen, und effektiv vielleicht zehn Minuten arbeiten.

Dieser Tag war einer der nicht so guten. Druckerumzüge durften wir nicht allein machen, und wo soll man in einer Kaserne auch schon jemanden zum Anpacken finden, also durften wir zu zweit durch die Republik fahren, einen Netzwerkdrucker abbauen (Ethernet- und Stromkabel ziehen), irgendwo anders wieder aufbauen  (Ethernet- und Stromkabel einstecken). Im schlimmsten Fall drei Räume weiter auf demselben Flur. Hab ich erwähnt, dass die Teile Rollen haben? 

Egal, also ich fahre mit irgendeinem Alkoholiker und Kettenraucher, der keinen Führerschein mehr hat, nach Bayern. Ständig schreit er rum, weil jemand auf der Autobahn nicht schnell genug, oder zu schnell fährt, raucht eine Kippe nach der anderen, ignoriert, wenn ich ihm sage er soll das lassen, schlägt plötzlich aufs Amaturenbrett, weil er wohl auf dem Handy was sieht, was ihm nicht passt.

Vielleicht nicht ganz zufällig, war das die Zeit, zu der ich anfing, jede Ausgabe in Arbeitsstunden umzurechnen. Warmmiete? 42 Stunden. Wocheneinkauf? Fünf Stunden. Der Unterschied zwischen Raststättenkaffee und selbstgekochtem Instant? Acht Minuten Autofahrt neben Krawczyk, dem kettenrauchenden Choleriker. 

Wir kommen an, Druckerumzug dauert 15 Minuten, runden wir auf eine Stunde auf. Macht den Kohl auch nicht mehr fett, mittlerweile wurden bestimmt schon 10 Arbeitsstunden berechnet. Sorry, Steuerzahler.

Dispatch ruft an: "Wo ihr schonmal in Bayern seid, könnt ihr morgen nach Stetten fahren? Da ist ein Rollout, die brauchen noch Leute."

Also gut, auf gen Stetten, übrigens in BaWü, nicht in Bayern, aber weil der Tag fast vorbei ist, fahren wir erstmal in Augsburgs widerlichstes Hostel, wo für uns zwei Betten in einem Viiiielbettzimmer gebucht wurden. Das macht übrigens der Logistiker, nicht der Personaler, und vermietet die Plätze dann an den Personaler weiter. Sicher nicht ohne deftigen Aufschlag.

Aber egal, ich denke an die üppigen Stunden am nächsten Tag, an die 15 € Verpflegungsgeld, die bei jeder Übernachtung fällig werden. Mentale Buchführung: fünf Stunden noch, bis ich die Miete für nächsten Monat zahlen kann. Dann nochmal zwölf für die Verpflegung, und nochmal zwei oder drei für ein schönes Date mit der dickbusigen Svenja.

Rechnet noch jemand mit, wie viel der Ausflug den Steuerzahler bisher kostet?

Nächster Morgen, Mojciech hatte wohl eine schlechte Nacht, flippt beim Fahren mehrfach völlig aus. Wirft irgendwann wütend sein Handy auf die Rückbank. Ich fahre ihm nicht schnell genug, er ist zu dumm zu verstehen dass wir für die Fahrzeit genauso bezahlt werden wie für den Rollout, also greift er irgendwann ins Lenkrad, um mich auf die linke Spur zu bugsieren. 

So nicht du Spacko, denk ich mir und fahre die nächste Raststätte an. "Du trinkst jetzt erstmal nen Kaffee, bist ja kaum auszuhalten", sag ich zu ihm. Polatzki steigt aus um sich einen Kaffee zu holen, lässt das Handy im Wagen. Er geht rein, ich fahre weiter, zurück auf die Autobahn, und dort auf den nächsten Parkplatz.

Ja hallo Dispatch, ich warte jetzt seit über 'ner Stunde auf den Kollegen. Der wollte kurz zum Lidl um sich Schnapps zu holen. Jetzt ist er verschwunden. Ne ich erreiche ihn nicht. Ja der geht nicht ans Handy. Ja seit 'ner Stunde schon, ich muss jetzt echt zum Rollout.

"Ja dann fahr schonmal los, wir versuchen ihn zu erreichen." Viel Glück, denk ich mir, und werfe sein Nokia in einen Raststättenmülleimer.

Beim Rollout bauen wir dann PCs auf, legen Kabel, schließen Telefone an etc. Mal zu dritt, mal zu zehnt, mal dauerts zwei Tage, mal 'ne Woche. Immer gemütlich, denn jeder braucht die Stunden, und von oben kommt kein Druck, weil unser Boss, und sein Boss, und sein Boss, an jeder Stunde gut verdienen. 

Wem das Geld nicht reichte, der durfte entweder hoffen, zufällig an dem Tag "Teamleiter" zu sein und 50 Cent pro Stunde mehr zu verdienen (besonders geil bei Aufträgen zu zweit, bei denen dann der Geringverdiener den anderen automatisch hasste). 

Oder er machte es wie die älteren Kollegen und holt sich die Festplatten und Arbeitsspeicher aus den zu entsorgenden Alt-PCs. Gerade bei den HDDs aus Bundeswehrrechnern natürlich eine tolle Idee...

Der ganze Job existierte nur, weil die Soldaten nicht ihre eigene Hardware austauschen durften, nichtmal Peripherie, irgendwas mit Versicherung. 

Egal, am Ende zahlt es eh der Steuerzahler. Also ihr. Und ich brauchte die Schichten. Danke auch. 

Dienstag, 6. Juni 2023

Baustoffe Gernhardt Reinholtz GmbH

Die Stellenanzeige sprach mich direkt an:

“Keine Kenntnisse oder handwerkliches Geschick benötigt, etwas Deutsch wäre gut.”

Bewerbung lief übers Telefon und war auch keine große Hürde, können Sie sechs Stunden am Stück stehen, bissl mit anpacken? Ja okay, welche Größe brauchen Sie? Na gut, wir sind hier per du, komm mal am Samstag um halb sieben vorbei.

Und so gehe ich zur Baustoffe Gernhardt Reinholz GmbH, bezahltes Probearbeiten, 8,13 € die Stunde, quasi nichts und dennoch mein höchster Verdienst in den letzten zwei Jahren. Um mich herum, Polen, Studenten, Lagerhelfer. Jeder raucht, manch einer, so vermute ich, hat Schnaps in der Kaffeekanne. Der einzig ausgebildete Lagerist, Udo, gibt den Ton an.

Es gibt nur eine Regel, sagt er, und erklärt uns zwei Regeln: Wenn ich auf dem Bock sitze, will ich Ruhe im Puff. Und wenn ich Frauen hier hab, sagt denen nix von anderen Frauen. Als einziger grinse ich dämlich, denke er macht Witze. Aber er, Mittvierziger mit halb leerer Kauleiste, guckt mich nur ernst an. Später sagt einer der polnischen Kollegen zu mir: “Man glaubt es nicht, aber was der Typ wegnagelt ist unglaublich. Jede Woche ‘ne neue Perle.”

Der Job war voll in Ordnung. Wir mussten LKWs und Sprinter ein- und ausräumen, viel mit Sack- und Schubkarren bewegen, und wenn es richtig schwer wurde, kam Udo auf seinem Bock. Wenn er nicht gerade Paletten oder Frauen aufgabelte, machte er die Schichtpläne, und weil er ein guter Kollege war, und der Rest von uns arme Schlucker, waren die Schichten immer überbesetzt. So saßen immer ein Drittel der Arbeiter irgendwo rum und unterhielten sich, häufig über Udos letzte Eroberungen. Was diese anging schien er nicht wählerisch zu sein. Ständig kamen ihn neue Frauen besuchen.

Teilweise fitte Studentinnen die halb so alt waren wie er, teilweise gewaltige Buttergolems die nach dreißig Jahren Hartz 4 aussahen. Teilweise brachten sie ihm Mittagessen oder Kuchen, und für jede Frau die ihm in seinem Büro besucht erzählte er uns von drei anderen, die er in seiner Freizeit traf. Einmal berichtete er von einem Wochenende, an dem er Samstags “eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern in drei verschiedenen Brauntönen” traf und Sonntags noch zu einer Prostituierten ging; der Hunger des Flurförderfickers war unstillbar.

Während ich Schrauben sortierte oder Paletten belud dachte ich über den Erfolg des mysteriösen Mösenmörders nach. Was macht ihn, einen dicken Dauerraucher, die besten Jahre längst hinter sich, kaum noch Haare und nicht sonderlich groß, für die Damenwelt so anziehend? Irgendwann endete auch der Job, mein Vertrag wurde nicht verlängert, denn sonst hätte man mir 9 € zahlen müssen, also verließ ich das Lager schweren Herzens.

Gut zehn Jahre später und Udo längst vergessen endet für mich eine erfolglose Tinder-Beziehung. Woran hattet jelegen, frag ich, und die Frau erklärt mir, dass mein langweiliger Bürojob ihr immer ein Dorn im Auge gewesen sei. Ihr letzter Freund, Tierarztstudent, ihr neuer Freund, Staplerfahrer. Ein echter Männerjob eben, harte körperliche Arbeit, handwerkliches Geschick und gutes Gehalt, sagt sie. Ich will ihr in allen Punkten widersprechen, bin verwirrt und komme zu dem Schluss, dass man als Mann im Berufsleben eine Wahl zu treffen hat:

Mach den Staplerschein, oder sei für immer Mann zweiter Klasse, und blicke neidvoll von unten hinauf, auf das Pantheon der Flurförderfahrzeugführer, auf die Götter auf dem Bock.

Sonntag, 4. Juni 2023

Der Ruf des Rattenkönigs

Der Ruf des Rattenkönigs eilte ihm weit voraus.

Nachdem ich die zehnte bis zwölfte Klasse in Abendschulen hinter mich gebracht, und nebenbei in einem Callcenter gearbeitet hatte, wollte ich die dreizehnte Klasse - und damit das Abitur - in Vollzeit absolvieren. Das Schülerbafög würde gerade für die Miete reichen, aber ich hatte gute tausend Euro zusammengespart, die für Lebens- und Haushaltsmittel reichen mussten.

Das Kolleg sah vormittags nicht groß anders aus als abends, aber die Schüler und Lehrer schienen irgendwie entspannter. In der erste Pause des neuen Schuljahres stellte ich mich meinen neuen Klassenkameraden vor, und das Gespräch fiel auf Computerspiele.

“Lass bloß den Rattenkönig nicht hören, dass du zockst. Den wirste nie mehr los”. Der Rattenkönig, so erfuhr ich, war seit Ewigkeiten am Kolleg, etwas dümmlich, ein Dauerzocker, ein komischer Kauz, unbeliebt und irgendwie creepy. Wer sich auf ein freundliches Gespräch mit ihm einlässt, so die Legende, fände einen Freund für’s Leben - wider Willen.

In dem Moment beschloss ich, dass ich, der sich selbst oft als Außenseiter gefühlt hatte, nett zum Rattenkönig sein würde, der seinen Ruf sicher nicht verdient habe.

Ein Vorteil der Vollzeitschule gegenüber dem Abendunterricht waren die freiwilligen AGs, und ich schloss mich der AG “Englische Literatur” an. Teils aus echtem Interesse, teils weil sie von einer Studentin aus Brighton geleitet wurde, deren Akzent sie für mich unwiderstehlich und ihr Aussehen sie auch für mich erreichbar machte. Da begegnete ich ihm.

“Midget Pritchett ist noch nicht da.” “Vielleicht fehlt er ja und wir schaffen ausnahmsweise mal eine ganze Seite.” “Wenn der noch einmal von seiner dämlichen Discworld redet…” Und während alle über den Rattenkönig, der sich als großer Terry Pratchett Fan anscheinend den Spitznamen “Midget Pritchett” verdient hatte, grinste die Lehrerin nur und tat so, als würde sie nichts hören.

Doch dann kam er reingewuselt. Hochroter Kopf, eine dicke Brille und einen dickeren Nacken, ein Rattenschwanz als Frisur und noch einen halben Kopf kleiner als ich. Sofort tat mir der seltsame Kerl leid und mein guter Vorsatz, immer freundlich zu ihm zu sein, verstärkte sich nur.

Die AG wurde durch Pritchett zur Tortur. Wir alle hatten mit den Canterbury Tales schwer zu kämpfen, das Mittelenglisch und die antiquierte Prosa fielen niemandem leicht, doch der Rattenkönig, mit einem extrem deutschen Akzent und dem völligen Fehlen rudimentärer Vokabeln erwies sich als der Blinde unter den Einäugigen. Schlimmer noch: er schien seine Inkompetenz mit einem absurden Enthusiasmus überspielen zu wollen und verwandelte jeden Monolog in ein explositionsartiges Schauspiel mit einem klischeehaften Akzent der an die Nazis in Indiana Jones erinnerte. Das alles hätte ich ihm verziehen, aber jeder zweite Satz erinnerte ihn an eine Szene aus einem der Discworld-Romane, und es schien ihm völlig egal, dass niemand sonst diese gelesen hatte, und so verfiel er ständig in Tiraden, die nichts mit der AG zu tun hatten.

Den Entschluss, freundlich zu ihm zu sein, sollte ich alsbald bereuen. Einmal saß ich im Wahlpflichtfach Informatik neben ihm, und er schaute ein Video, und ich fragte nur: “Ist das DotA?” Und er lachte laut und leicht verächtlich, als hätte ich ihn gefragt, ob ein Golden Retriever eine Katze sei, “Nein, das ist League of Legends!”

Und ab dem Tag, ließ er keine Gelegenheit aus, über das Spiel mit mir, oder vielmehr zu mir, zu reden. Ein Gespräch ergab sich nie, nur seine Tiraden über das Spiel und meine flehentlichen Erinnerungen, dass ich ihm nicht folgen kann und auch gar kein Interesse habe.

“Ja und nach sieben Minuten in der oberen Lane hatte ich dann den Ring der Gier aber dann kam der Hard-Carry aus dem anderen Team und sein Q haut halt richtig rein wenn da noch Creeps sind…”

Bitte, Rattenkönig, ich weiß nicht wovon du redest. Ich hab dir doch gesagt ich habe noch nie LoL gespielt. “Ja also sein Q macht einen großen Pilz und mit E kann er den dann…”

Bitte, Rattenkönig, das interessiert mich wirklich nicht.

BITTE, Rattenkönig, wieso sollte ich denn das Turnier gucken wenn ich nichtmal LoL spiele?

Aber es war längst zu spät. In jeder Pause, in der AG, auf dem Weg zur Schule, auf dem Weg nach Hause. Immer fürchtete ich den Ruf des Rattenkönigs. “Stefan! Warte mal! Ich bin jetzt in der Silberliga! Hab jetzt mit dem Wasserelementar ein ELO von 1450! STEFAN!”

Und wieder und wieder und wieder. Ich laufe über einen Flur, oder sitze in der Pause auf dem Hof, oder stehe in der Kantine um einen Kaffee an, da kommt sie, die verhasste Stimme, “Stefan!” Der Ruf des Rattenkönigs.

Irgendwann rede ich mit der Studentin aus Brighton, und ich will sie fragen, ob sie sich mal mit mir in der Stadt treffen will. Dann ertönt er, der Ruf des Rattenkönigs: “Stefan! Hast du das Finale gestern gesehen? Team Liquid hat mit Biimo gewonnen! Sieben zu vier! Das letzte Spiel war so…”

Der gute Vorsatz, vergessen. “Lass mich doch mal mit dem Scheiß in Ruhe, Rattenkönig! Ich spiele kein LoL, ich lese keine Scheibenwelt, und so geil du die Reihe findest, bin ich ziemlich sicher, dass sie scheiße sein muss. Lass mich in Ruhe. Ich will nicht dein Freund sein!”

Der Vorsatz, gebrochen, die Studentin, verschwunden, der Rattenkönig, unbeirrt, in seinem wirren Monolog über ein Spiel das sonst niemand spielte oder ein Buch das sonst niemand gelesen hatte.








Sonntag, 14. Mai 2023

Der Urlaub

“Kinder, wir fahren in den Urlaub”, erklärte Vater feierlich.

Kurz bevor er zum letzten Mal seinen Job verlieren würde, hatte er noch einen Peugeot 106 gekauft. Vier Sitze, zwei Türen, die Leistung mehrerer Pferde, und in der Mittelkonsole ein Aschenbecher, dessen Fassungsvermögen meine Eltern regelmäßig ausreizten. Sein ganzer Stolz.

Und so fanden meine Schwester und ich, ich war wohl so sieben oder acht, uns auf der Rückbank, zwischen uns ein Koffer, unter meinen Füßen eine Tasche, der Kofferraum voll, an einem brüllend heißen Pfingstwochenende mit Brückentag auf dem Weg nach Holland.

“Lass die Finger weg vom Fenster sonst klatscht es!”, schrie mein Vater nach hinten. “Das zieht mir im Nacken!” Eine Kippe nach der anderen, die Hitze kaum zu ertragen, und ich mit dem billigen Fake-Gameboy, der nur Tetris spielen konnte, und neben mir die Schwester mit dem echten Gameboy. Der Vater immer kurz vorm Explodieren, die Mutter still und duckmäuserisch, alibimäßig eine Karte haltend die sie sicher nicht hat lesen können. Aber das war okay, denn Vater kannte jeden Weg.

Aus dem Kassettenspieler brüllte Tom Astor, ein Musiker aus dem zu recht vergessenen Genre der deutschen Lastkraftwagenfahrermusik, die versuchte, die Magie der amerikanischen Truckerkultur auf Deutschlands ordentliche und gemäßigte Autobahnen zu übertragen. Aber Vater bildete sich ein zu einer Kultur zu gehören, von der ich bis heute nicht sicher bin, dass sie existierte, und so waren wir alle gezwungen, Lieder zu hören, in denen es um vergessene Teddies an Autobahnraststätten, Sekundenschlaf, die Einsamkeit auf der Straße und CB-Funk ging.

Auf dem Weg fragt uns Vater nach jedem Nummernschild, wofür steht D, und wofür steht KR, und wofür steht RE, und meine Schwester und ich, Grundschüler, die Köln nie verlassen hatten, können nicht antworten und mit jedem falschen Versuch und jedem “weiß ich nicht” wird Vater gereizter. Irgendwann explodiert er, weil Mutter eine Raststätte, an der die beiden wohl schonmal gehalten hatten, nicht erkennt. Die Autobahn ist seine Domäne, und dass seine Familie darüber weniger weiß als er, kann er nicht verstehen.

Irgendwann werden die Nummernschilder zunehmend gelber, und die Tiraden richten sich nicht mehr gegen uns, sondern gegen die holländischen Autofahrer, lernen die denn nichts in der Fahrschule, und welche Schwuchtel hat denn diese Kreisverkehre erfunden, was spricht denn gegen eine Ampel. Anstatt mich am Charme der Raps- und Tulpenfelder, Grachten und Windmühlen zu erfreuen schaue ich auf Vaters roten Nacken, dessen Speckwülste sich unter der Kopflehne nach hinten durchpressen, und hasse mein Leben.

Dann erreichen wir den Campingplatz, kommen an einer Schranke an, ich bin erleichtert endlich aussteigen zu können, und auch Mutter will die Autotür öffnen, aber Vater schreit, ihr bleibt jetzt sitzen, bis ich den Platzwart gefunden habe, es geht gleich weiter. Und Mutter schließt die Tür wieder, aber wenigstens kann ich das Fenster öffnen.

Wir Kinder finden das Mobilheim super, und unser winziges Zimmer mit den noch viel winzigeren Betten erst recht. Und auch den Rest des Campingplatzes finden wir toll. Überall fahren Heranwachsende auf Rädern herum, es gibt ein kleines Fußballfeld, eine Gracht die das Areal natürlich begrenzt, und einen kleinen See, auf dem Jugendliche auf Surfbrettern paddeln oder vereinzelt auf Motorbooten rumdüsen. Also gehen wir schwimmen, erkunden, lernen Kinder aus weit entfernten, exotischen Orten wie Krefeld oder Recklinghausen kennen, und kehren erst zum Bungalow zurück, als dichte Schwärme von Mücken die nicht stechen um die Straßenlaternen herumschwirren.

Selbst die Eltern, die offensichtlich den ganzen Tag das Mobilheim nicht verlassen hatten, und Mutter, die wohl gerade noch geweint hatte, und auch nicht das karge Abendbrot, bestehend aus Toast mit Salami, können unsere gute Laune ruinieren und als wir dann endlich im Bett liegen, und kurz bevor meine Augen zufallen, zeigt meine Schwester mir noch, dass sie irgendwoher eine Hand voll holländischer Gulden hat, und verspricht, mich am nächsten Tag zu einer Pommes einzuladen.

Kurz nach unserer Rückkehr in die Kölner Platte verlor Vater dann seinen Job, und somit begann die Zeit, in der er richtig unangenehm wurde.

Sonntag, 30. April 2023

An einen alten Freund

 Kevin hatte die Angewohnheit, immer unerwartet irgendwo aufzutauchen.

Kennengelernt habe ich ihn, ich war wohl so 8 oder 9, als ich mit Schulfreunden Fußball spielte. Drei gegen drei, wir verlieren, und mein Teampartner, die Lusche, ist sauer und nimmt seinen Ball  mit nach Hause damit niemand mehr spielen kann. Kevin taucht auf, sagt er könne einspringen, er habe auch einen Ball, weil er wohnt ja um die Ecke, und da kann man den ja schnell holen.

Wir landeten dann in derselben fünften Klasse an der Hauptschule, und wenn er mal mein Fahrrad am Randes des Waldstreifens zwischen den beiden Neubaugebieten stehen sah, kam er zu mir, kletterte auf denselben Baum, und wir sprachen über die Dinge, die man als Kinder so bespricht.

Sieben, acht Jahre später torkelte ich nach einer Feier in der Morgendämmerung nach Hause, da kam er von hinten angeradelt, legte mir die Hand auf die Schulter und ließ sich ein paar Meter ziehen. “Na, du Fotze?”

Kevin war mir immer einen Schritt voraus. Schrieb ich eine Drei, hatte er eine Zwei. Trank ich mein erstes Radler, trank er sein erstes Bier. Hab ich meinen ersten Kuss von Sandy bekommen, hat sie ihm einen runtergeholt.

Er war immer etwas witziger, immer etwas selbstbewusster, immer etwas glücklicher. Und immer eine Hand breit größer.

Kevin lebte mit seiner Mutter, die in einem Reisebüro arbeitete und auf mich immer wie eine Frau aus dem Fernsehen wirkte. Cooler als andere Mütter, jünger, freier. Schlank und blond. Vater hatte mal über sie gespottet, weil sie geschieden war. Kevin nannte sie beim Vornamen, Corinna. Selbst die Wohnung beeindruckte mich. Hell und modern, im Flur hing ein Bild, das eine schwangere Frau mit freier Brust zeigte, welches meine Eltern sicher als empörend empfunden hätten.

Einmal haben wir zusammen seinen Vater im Ruhrgebiet besucht. Der hatte ein kleines Reihenhaus vom Opa Hannes, der an Staublunge gestorben war, geerbt. Corinna fuhr uns, in einem kleinen Coupé, und als sie das Fenster runterkurbelte, um aus dem Auto zu aschen, flatterten ihre blonden Haare im Fahrtwind und gaben mir den ersten Ständer, an den ich mich erinnern kann.

In Duisburg, oder Dortmund, oder woauchimmer im Ruhrpott, empfing uns dann der Vater. Der stand in seinem kleinen Vorgarten, auf dem Grill ein paar Bratwürste, trug Sonnenbrille und Jeans und ein weißes Unterhemd und trank Bier aus einer Dose. Umarmte Corinna, klatschte ihr auf den Hintern, und sie küsste seine Wange. Das war mehr Nähe, als ich von meinen ungeschiedenen Eltern, die immer verklemmt und spießig und trotz dauerhafter Arbeitslosigkeit ständig gestresst und überfordert wirkten, kannte. Für mich damals der Inbegriff junger, reicher, rebellischer Eltern. Abends saßen wir dann vorm Super Nintendo des Vaters, der noch kurz ausgehen wollte, zu seiner Freundin wie Kevin vermutete, und ich hätte Kevin gern gesagt, wie sehr ich ihn um seine Eltern beneidete.

Einmal, ich war wohl so 15-16, wollte meine Schwester nachts unser Zimmer für sich haben; ihr Freund war da. In solchen Nächten schlief ich im Wohnzimmer. Aber in dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. So ging ich raus, auf den Spielplatz, um ein vom Vater geklautes Bier zu trinken und mir in Ruhe selbst leid zu tun.

Und unverhofft taucht Kevin auf, auf seinem Rad. Für einen Moment freue ich mich riesig, jemanden zum Reden zu haben, aber Kevin ist nicht allein. Auf seinem Gepäckträger sitzt ein Mädel mit schwarzen Haaren. Ich sehe Kevin auf mich zeigen, und er lenkt ein, und radelt auf mich zu. Was ich denn so spät da noch mache, und ich sag nur Bier trinken, und Kevins Begleitung begrüßt mich, und ich erkenne, dass sie schon älter ist als wir, wohl mindestens zwanzig, und bald besteht sie darauf, weiterzuziehen. Und Kevin lacht und ist sichtlich stolz auf sich und die beiden radeln von dannen.

Das Mädchen hat bereits einen Sohn, und Kevin, dem selbst der Papa oft gefehlt hat, nimmt sich der beiden an. Er beendet die Realschule, macht dann eine Lehre als Elektriker. Manchmal kommt er mich und Domi besuchen, wirkt im Vergleich zu uns richtig erwachsen, voller Verantwortung. Dann ist er Geselle und effektiv Vater eines Fünfjährigen und hat immer seltener Zeit für uns. Aber als Domi mich verlässt und auszieht, kommt Kevin vorbei, hängt fast zwei Tage bei mir rum und wir zocken und trinken und reden nicht ein Wort über sie und als er geht legt er mir die Hand auf die Schulter und fragt mich: “Kommst du jetzt allein klar?” Und nach einer kurzen Pause:
“du Fotze?”

Heute ist Kevin nicht mehr witziger, selbstbewusster, glücklicher. Nachdem seine Freundin ihn mitsamt Kind verlassen hatte, um zum Biopapa zurückzukehren, zerbrach er. “Ein Kind braucht seinen Vater”, sagte sie wohl zu ihm, als sie eines Tages einfach auszog. Anfangs habe ich noch versucht, mit ihm Kontakt zu halten.

Heute weiß ich nur noch von seiner Mutter, dass er noch lebt.

Samstag, 22. April 2023

Abfluss 2007

„Es gibt eine Änderung“. Ihr dritter Versuch. Zweimal wurde die Lehrerin bereits von zu spät kommenden Schülern unterbrochen. Dabei war es bereits zehn nach acht.

Nachdem dann auch die letzten Schüler selbstgefällig an ihr vorbei gegangen waren und - provokativ langsam - ihre Plätze eingenommen hatten, der nächste Versuch. Noch vor ein paar Wochen wäre ich einer der Störenfriede gewesen, aber seitdem klar geworden war, dass ich die Quali für die Realschule nicht geschafft hatte, hatte ich eine gewisse Verachtung für mein Asi-Verhalten der letzten Jahre entwickelt.

„Es gibt eine Änderung.“ Und sie erzählte den Schülern der 9c, dass unsere Abschlussfeier nicht wie geplant in der Aula stattfinden würde, denn dort wollen jetzt doch die Realschüler feiern, sondern in der Sporthalle. “Aber da ist es ja auch ganz schön.”

So lief es häufig am Schulzentrum. Die Realschüler bekamen was sie wollten und die Hauptschüler steckten zurück. Der zur Zeiten meiner Eltern noch gemeinsame Schulhof war längst getrennt worden, die Hauptschüler auf der komplett asphaltierten Seite, mit einem hässlichen Rondell und zwei Tischtennisplatten, die Realschüler auf der anderen Seite des Gebäudes, wo es Bäume gab, und eine Wiese, und im Sommer ein Volleyballnetz. Und wenn es AGs gab, dann wurden die fast immer von und für Realschülern gemacht, und von uns traute sich fast niemand hin. Nur die “Kantine”, teilen wir uns. Ein kleiner Raum, zwei Sitzbänken und ein Kiosk, an dem der Hausmeister in den Pausen belegte Brote und Süßes und im Winter Tomatensuppe verkaufte.

„Wir brauchen auch noch jemanden, der sich um die T-Shirts kümmert. Dafür haben wir die Klassenkasse, hat da jemand Lust drauf?“. Zwei Schülerinnen in der ersten Reihe melden sich, lachend, führen offensichtlich was im Schilde. Aber die Lehrerin merkt es nicht, oder es kümmert sie nicht.
 
Der nächste Montag, die Abschlusswoche. Die Mädels teilen die T-Shirts aus. In der ersten Reihe wird schon gelacht, ich ahne Böses.  Irgendwann kommt die Kiste auch bei Kevin und mir an, Kevin lacht sich tot, mir ist das tierisch peinlich. Auf den blauen Poloshirts ragt in brauner Schrift der Schriftzug:

„Abfluss 2007 - Scheiße schwimmt oben“

Alle lachen, scheinen die Polos zu lieben. Aber ich schäme mich. In den nächsten Tagen trage ich zwar das Shirt, aber mit einem Pulli darüber, trotz der Hitze, zeige nur den blauen Kragen.

Unsere letzte Woche läuft erwartet chaotisch. Unterricht findet nicht mehr statt. Manche Lehrer fahren zwischendurch noch den Fernsehwagen in die Klassen, aber selbst für die Filme reicht unsere Aufmerksamkeit nicht mehr. Meistens hängen wir auf dem asphaltierten Schulhof rum, die Raucher rauchen hinter der Sporthalle, die coolen Lehrer sind manchmal auch dabei.



“Stütze, komm schnell, die Streber schieben Stress!” Kevin ruft mich, und ich renne hinter ihm her zur Kantine. Da sehen wir zwei Mitschüler, in den blauen Polos, umgeben von einer Traube von Realschülern, die sie rumschubsen. Einer davon Jamshid. Ein Fehler. “Ich fick dein Vaters Kopf!” schreit er einen Realschüler an, der ihn feige von hinten in die Traube geschubst hatte. Dann kommt Khorshid, sein Bruder, angerannt. Die Faust auf den Hinterkopf, der Streber landet auf  dem Boden, die Situation eskaliert. Kevin schreit, schmeißt sich in die Menge, es fliegen Fäuste. Ich ziehe den Pulli aus, zeige das blaue Shirt.

9c Pride. Klassenstolz. Scheiße schwimmt oben.

Oder doch nicht. Irgendwer schubst mich von hinten, ich lande sofort auf dem Boden. Neben mir liegt ein Realschüler. Jamshid und Khorshid treten auf ihn ein, er versucht den Kopf zu schützen. Seine Brille, zerstört am Boden. Dann, das Ende. Zwei Lehrer und er Hausmeister schreiten ein und die Situation beruhigt sich. Ich sehe Kevins blutige Nase, sehe Khordshid im Schwitzkasten des Hausmeisters, sehe wie zwei pummelige Klassenkameradinnen noch immer zufällige Realschüler anpöbeln, dicke Schweißringe unter den blauen Ärmeln. Ich bin in bester Gesellschaft. Während uns die Lehrer durch den Hauptschultrakt zum Rektor eskortieren, werden wir gefeiert. Ich habe Kevin selten glücklicher gesehen.

Zur Abschlussfeier sind auch die Eltern eingeladen, aber die wenigsten werden auftauchen. Auf der Einladung zu Abschlussfeier kreuze ich “Wir werden nicht teilnehmen” an und lasse meine Schwester die Unterschrift meiner Mutter fälschen. Die konnte sie im Schlaf. Ich war zwar sicher, dass meine Eltern ohnehin kein Interesse an den Feierlichkeiten gehabt hätten, aber war froh um jedes Gespräch, das ich nicht mit Vater führen musste.

Am Tag der Zeugnisausgabe holen uns Kevins Eltern ab, um seine bestandene Quali für die Realschule bei McDonalds zu feiern. Was machst du denn jetzt nach der Schule, fragt mich seine Mutter während der Autofahrt. Ich habe keine gute Antwort, denn einen Ausbildungsplatz habe ich bisher nicht.

Plötzlich ist mir mein blaues Poloshirt wieder sehr unangenehm.







Montag, 17. April 2023

Kindskopf

“Sei nicht langweilig!” schrieb sie in ihrem Tinder-Profil. Trotzdem hab ich es “geliked”.

Sie war spontaner als ich, und viel verrückter, und jünger, kannte jeden und lebte im Moment. Trotzdem klappte es irgendwie. Das erste Treffen war wenige Stunden nach dem Tinder Match. Sie fragte nach meiner Nummer, und ohne Ankündigung kam ein Videoanruf. Was zur Hölle. Sie saß offensichtlich in einer Unterführung auf dem Boden, Kippe in einer Hand, das Handy in der anderen. Endlos elegant und unfassbar unbeschwert. Ach ja, habe ich wohl Lust, zu einem Konzert zu gehen, “gleich”, so richtig spontan?

Sei nicht langweilig, dachte ich mir, und sagte zu. Sie war impulsiv, lachte laut und häufig, sang jedes Lied laut mit, selbst wenn sie nur eine grobe Idee vom Text hatte und bewegte sich so leicht, sorglos, natürlich.

Einmal lagen wir nach einem Konzert auf ihrem Sofa, Kopf an Fuß, redeten die Nacht weg, bis wir die Vögel hörten. Längst hatte ich beschlossen, den gelben Schein einzureichen, um noch etwas länger den irren Geschichten zuzuhören - und Vitalogy auf Repeat. Einmal pennte sie weg, weckte sich selbst mit einem lauten Schnarchen, und redete weiter.

Daneben ich, blau, breit und zufrieden.

Von solchen Nächten hatten wir einige, bis sie dann irgendwann die Frage stellte, die mich schon so manche Beziehung gekostet hatte. “Willst du eigentlich mal Kinder haben?”

Nein, nicht wirklich, du? Ja und möglichst bald. Und von jetzt auf gleich schwebt das Damoklesschwert aus Scheiße über jedem Treffen. Wir daten noch eine Weile, jede Begegnung etwas weniger unbeschwert als die letzte. Sie sucht nebenbei nach einer Beziehung mit Zukunft und ich suche das Weite.

Etwas Zeit vergeht, vielleicht ein Jahr. Dann sehe ich sie wieder. Ein Café in der Unteren, sie sitzt draußen, ein Typ hält ihre Hand. Leicht übergewichtig, rosa Polo-Shirt, Armbanduhr, fliehendes blondes Haar, Schweinsgesicht. Und daneben sie, mit ihren verrückten blauen Augen, und den tätowierten Armen, leicht und so mühelos reizend.

Fuck, denke ich mir nur, wie ist das passiert? Hoffentlich sieht sie mich nicht. Doch sie ruft laut “Stefan!”, und ich lasse mich zum Hinsetzen überreden. Sie stellt mir den Schweinemann vor, den ich aus purer Eifersucht so abschätzend behandle, und der sicher ein netter Typ ist, aber Gott der ist Bankkaufmann, als hätte ich es geahnt. Aber er hat die Frau und die stabile Karriere, kann ihr das Haus und die Kinder geben und den Skoda Kombi.

Daneben ich, derselbe Kindskopf wie ich es vor zehn Jahren war, und in zehn Jahren sein werde.

“Okay, ich muss jetzt los, hab noch eine Verabredung”, lüge ich, und gehe nach Hause, unzufrieden und unfähig, das zu ändern.

Dienstag, 4. April 2023

Flirtversuch bei Edeka

Ein paar Wochen lang habe ich Ausreden gesucht.

Ist das nicht unhöflich? Oder: Vielleicht problematisch, nicht dass sie sich auf der Arbeit belästigt fühlt. Oder: Heute ist eh zu voll, viel zu stressig.

Aber irgendwie ging mir die Idee nicht aus dem Kopf, und so nahm ich mir vor, es einfach mal zu versuchen. Tinder hatte mich faul gemacht. Swipen, chatten, verabreden: alles ohne Risiko, ohne dass man viel investieren muss, ohne dass man Absagen persönlich erlebt. Daten für Schüchterne.

Einmal saß sie an der Kasse als ich völlig verranzt aussah und Wein und Gummis gekauft habe. Mein Drei-Tage-Bart und erste weiße Haare auf dem Kopf lassen keinen Zweifel daran, dass ich die Dreißig hinter mir gelassen habe, und so konnte ich ihre Aufforderung, meinen Ausweis zu sehen, nur als gut gemeinten Witz auffassen. Haha, sagte ich nur, und sie so: schönen Abend wünsche ich dir! Genug, um mich zwei Tage immer wieder grinsen zu lassen.

Und dann, vielleicht drei Wochen später, der perfekte Zeitpunkt. Wenig los im Laden, und sie räumt gerade ein Regal ein. "Verzeihung", sag ich, und sie dreht sich um. Das war nicht vorbereitet, und vielleicht etwas ungeschickt, aber ich frag sie, was sie davon hält, wenn ihr Männer auf der Arbeit ihre Nummer geben wollen. "Kommt auf den Mann an." sagt sie, aber sie grinst. Und dann: "Ich hab mein Handy nicht hier, aber ich kann dir meine geben."

Erfolg. Ohne Bildschirm dazwischen, ohne zu swipen. Ohne die immergleichen, nervigen, seelenlosen ersten Chats. Ohne Dates, die eher Bewerbungsgesprächen als authentischen Begegnungen gleichen.

Später schreib ich ihr, sie kommt ein paar mal nach der Arbeit vorbei, wir gehen spazieren oder hängen bei mir rum. Schlafen ein paar mal miteinander und machen einen kleinen Ausflug an die Nordsee. Irgendwie funkt es nicht so richtig, wir haben nicht viel worüber wir reden können, die lange Autofahrt verbringen wir größtenteils schweigend. Eigentlich ist sie mir deutlich zu jung und süchtig nach Insta und Tiktok. Ich trinke ihr zu viel und bin ihr zu wehmütig. Sie will Kinder, ich will nur einen Hund.

Unsere Wege trennen sich, aber ich bin froh, dass ich den Mut aufgebracht habe. Vielleicht ein Lichtblick für jene, die lieber analog unterwegs sind.

Offline geht wohl auch noch.

Montag, 20. März 2023

Irgendwas stimmt mit Jochen nicht

Als Domis Roller eines Tages den Geist aufgab, hatten wir keine andere Wahl, als uns ausnahmsweise bei ihr zu treffen.

Domi war meine erste Freundin. Eigentlich wollten ihre Eltern sie Dominique nennen, aber irgendwie konnten sie das nicht schreiben, also hieß sie Dominik. So richtig, auf ihrem Ausweis.

Nun, nach einem Jahr Beziehung war es dann so weit, und ich habe sie das erste Mal zu Hause besucht. Sie lebte ländlich, die Familie bewohnte ein kleines, heruntergekommenes Haus. Domi, ihre Schwester, ihr kleiner Bruder Spike, ihr Stiefvater, nennen wir ihn Jochen, ihre Mutter, ein schwerst übergewichtiger Beagle und ein Haufen Katzen, die ständig ein und aus gingen.

Schon im Hausflur stank es nach Zigaretten und wir mussten über haufenweise Schuhe, Gummistiefel, ein Dreirad und eine fehlende Treppenstufe klettern, um in ihre Wohnung zu kommen.

In der großen Wohnküche standen zwei kleine Schreibtische mit Computern, Domis Mutter und Stiefvater je an einem davon. Wir sagen “Hallo”, die Eltern ignorieren uns fast gänzlich, die Rücken uns zugekehrt. Die Mutter in einem Chat-Raum, der Stiefvater ein Online-Kartenspiel spielend. Auf beiden Tischen stehen reihenweise Kaffeetassen, gefüllt mit Kippen, gerade genug Platz für Maus und Tastatur verbleiben.

Ihr Kinderzimmer teilt sich Domi mit ihrer kleinen Schwester, die wohl unterwegs ist, und so haben wir zwei degenerierten Teenager das Zimmer für uns und es dauert keine Minute, bis Domi mich reitet. Ich merke dass sie abgelenkt ist und ihr Top nicht ausziehen will und ständig zur Tür guckt. “Was ist los?” frag ich. “Jochen hört immer wenn ich ficke und kommt dann zufällig rein”.

Und siehe da, die Tür geht einen Spalt auf, und Jochen möchte wissen, wann es Mittag gibt. “Verpiss dich, Jochen” sagt Domi, ohne aufzuhören, mich zu reiten. Jochen lacht dreckig, und steckt den Kopf zur Türe rein. Verpiss dich, ruft Domi noch mal, und aus dem Wohnzimmer brüllt ihre Mutter, er solle uns doch mal in Ruhe lassen. Und wieder lacht Jochen dreckig, aber tatsächlich verschwindet er, ohne die Tür zu schließen.

Irgendwann ruft Domis Mutter, dass Spikes Windeln gewechselt werden müssen, und wir unterbrechen den Akt. Domi geht ins Wohnzimmer, ich liege auf dem Bett und nur die Verheißung, dass wir später weitermachen, hält mich davon ab, sofort wegzurennen.

Irgendwann stehe ich auf, gehe ins Wohnzimmer, setze mich an den Esstisch, habe das Gefühl das ist höflich. Domi spielt mit ihrem Bruder, der nicht, wie ich erwartet hatte, ein Säugling, sondern ein rundlicher Dreijähriger ist. Domi setzt sich zu mir, lehnt sich an mir an, sagt mir, dass sie uns Pizza bestellt hat. Jochen lacht, ist sich der Herr Prinz etwa zu fein, aus unserer Küche zu essen? Womit ich den Spitznamen verdient habe, verstehe ich zwar nicht, aber während ich in die Küche schaue, voll mit Katzenhaaren und Aschenbechern, ein offener gelber Sack mit Katzenstreu und Windeln auf der Arbeitsplatte, komme ich mir tatsächlich, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, zu fein für etwas vor.

In dem Moment wusste ich meine Eltern zu schätzen, die zwar auch von Sozialhilfe und Hartz 4 lebten, aber einen sauberen Haushalt führten und nie auf die Idee kämen, meine Schwester oder mich beim Sex erwischen zu wollen. Wenn man die Erwartungen nur niedrig genug hält…

Irgendwann kommen unsere Pizzen, Domi und ich essen am Küchentisch, Jochen kommt an und bedient sich an ihrer Pizza. Die Kippe in der linken Hand, die Pizza in der rechten. “Stefan versucht hier zu essen”, ermahnt ihn Domi. “Na und, das stört mich doch nicht beim Rauchen!”, sagt er, laut und widerlich lachend. Mir fallen seine fehlenden Eckzähne auf, und eine Fettwulst, die sich in seinem Nacken auftürmt, während er die Scheibe Pizza in sich verschwinden lässt. “Jochen, du bist ein Arschloch” sagt Domi. “Du sollst mich doch Papa nennen”, erwidert Jochen.
Dann ruft er laut nach Spike, und statt dem Dreijährigen, der anteillos auf dem Boden sitzt und in ins Leere starrt, kommt der Beagle um die Ecke und bekommt eine Scheibe Pizza.

Häh? Frage ich. Heißt der Hund etwa auch Spike? Domi wird rot, irgendwie scheint ihr in all dem Chaos und Elend DAS am peinlichsten zu sein. Ihre Mutter ruft, mit einem Akzent, von dem ich später lerne, dass er sächsisch ist, vom ihrem Schreibtisch auf: “Ja, aber der Hund war zuerst da.” Domi hat Tränen in den Augen. Ich frage nicht weiter.

Nach dem Essen ziehen wir uns in ihr Zimmer zurück, ihre Schwester ist mittlerweile nach Hause gekommen, und so beherrschen wir uns und chatten mit Schulfreunden in ICQ, gucken uns den Fail Blog an, lachen über z0r und German Bash. Domis Schwester guckt und lacht mir, wirkt nett, aufgeweckt und erstaunlich normal.

Irgendwann klopft es an der Tür, die Mutter ruft uns, wir sollen doch bitte in die Garage kommen, das neue Auto sei da. Ich weiß nicht worum es geht, und Domi erklärt mir, dass Jochen ein neues Auto bekommen habe, und wir uns das mit ihm ansehen müssen. Mir ist das Ganze zuwider, was interessiert mich das neue Auto dieses Spinners, aber gut, für Domi gehe ich mit runter.

Und so stehen wir zu fünft um einen in die Jahre gekommenen, ranzigen kleinen Opel, in der halbdunkeln Garage, Jochen mit einer Tüte Chips, bestimmt zehn Minuten, und die Mutter sagt wir können ruhig Fragen zu dem Auto stellen, aber niemandem fallen Fragen ein, und Jochen platzt fast vor Stolz und Ehrfurcht, und ich bin verwirrt und versuche nicht zu lachen, und Domi wirft mir flehende Blicke zu, als befürchte sie, dass ich die Absurdität dieser Situation mit einem Lachen exponieren könnte, und Jochen schiebt sich faustweise Chips in den Rachen, das Auto umkreisend, als hätte er in seinem Leben kein solches Wunder gesehen. Weitere, quälende Minuten vergehen, dann setzt er Spike - das Kind, nicht den Hund - auf den Fahrersitz, und lacht, und nennt ihn den kleinen Rennfahrer, ganz der Papa eben, und ist dann eingeschnappt, dass sonst niemand lacht, außer Domis Mutter, der niemand die Echtheit ihres bemühten Gelächters abkauft.

Irgendwann sitze ich auf dem Rad nach Hause, der Tag wirkt wie ein wirrer Fiebertraum, und ich lege mir schon Formulierungen zurecht, wie ich morgen Kevin davon berichten werde.

Moment mal, denke ich mir. Jochen hört immer, wenn sie fickt?

Aber ich war doch zum ersten Mal bei ihr…

Montag, 6. März 2023

Permaban auf r/de und die Zukunft des Blogs

Permaban von r/de

Aktuell werde ich häufig gefragt, wieso ich nicht mehr auf /r/de poste. 

Leider wurde ich da, relativ willkürlich, gebannt. Zuerst habe ich eine (berechtigte) Verwarnung bekommen. Hab in einen Post einen Link zu meinem Blog später reineditiert, was offensichtlich gegen die Regeln zur Eigenwerbung verstößt. Das war etwas dreist und rückblickend dämlich.

Ich habe die Warnung sehr ernst genommen und nicht mehr gegen Regeln verstoßen, aber irgendein Mod meinte dann dennoch mich bannen zu müssen, nachdem ich meinen nächsten Text gepostet hatte. Auf das Ban-Appeal und die Frage, was ich denn falsch gemacht habe, kam dann die kafkaeske Antwort (sinngemäß): "Wenn wir dir sagen würden, was du genau falsch gemacht hast, würdest du das Wissen nur nutzen um in Zukunft Regeln zu brechen."

Ich hab sogar angeboten, dass ich nur noch die Texte ohne jeden Bezug zum Blog poste und gar nicht mehr kommentiere, aber das wurde einfach ignoriert.

Natürlich leidet darunter die Sichtbarkeit des Blogs. Ich würde mich also freuen, wenn ihr ihn mit den Freunden teilt, von denen ihr denkt, dass sie darin einen Mehrwert finden. Die Texten fanden auf DE immer einen großen Anklang und es wäre schade, wenn sie in Vergessenheit geraten. 


Die Zukunft des Blogs

Im Moment habe ich einen Haufen Ideen für weitere Texte und bereits geschriebenes Material für mindestens drei davon. 

Neben dem geplanten Buch ist auch das Projekt der eigenen Website noch in der Mache, aber eins nach dem anderen. 

Also, danke für's Lesen und für's Teilen und haut rein!


Samstag, 4. März 2023

Die gute Ute

An meinem ersten Arbeitstag im Callcenter führte mich der Teamleiter herum und jeder der gerade nicht im Telefonat war stellte sich höflich vor. Fast keinen der Namen habe ich anfangs behalten, Utes Namen aber schon.

"Das ist die Ute. Ne echt gute!" Ein Witz, der schon beim ersten Mal wohl nicht lustig war, aber er wurde nie müde ihn zu wiederholen und Ute wurde nie müde schallend darüber zu lachen.

Schallend lachen, das konnte sie. In so manchem Telefon das ich führte sprachen die Kunden mich darauf an. "Da hat aber jemand Spaß" oder "Die Dame klingt aber herzlich!" und immer war Ute der Auslöser, die alles lustig fand. Und Muffins oder Brownies oder Kekse für das ganze Team, die brachte sie auch immer mit.

Ihr Schreibtisch war als einziger richtig geschmückt. Geschmückt von Snickers-Verpackungen, von einem Kaktus, von Bildern ihres Sohnes, von leeren Brötchentüten, Geschirr und Besteck, von einer Porzellanfigur die von vorne wie eine Katze und von hinten wie ein Penis aussah - eine schier unendliche Quelle an Witzen für Ute und den Teamleiter, von einem USB-Ventilator und einem USB-Wärmekissen und vielen anderen Geräten, die eindrucksvoll zeigen, wie U eigentlich so ein SB sein kann.

Im Pausenraum ging es dann völlig ab, da legte sie einen Schalter um, da konnte sie alle Hemmungen loslassen, da konnte sie richtig sie selbst sein. Der Teamleiter brachte einen Witz und meist brach Utes explosionsartiges Lachen noch lange vor der Pointe aus ihr heraus. Und wehe dem, der eine Banane essen wollte. Je nach Laune war das entweder der Anlass für einen Peniswitz, einen Veganerwitz, oder einen "biste etwa auf Diät?"-Witz.

Wie schade, bemerkte sie mal, dass ich nicht Mirko heiße, denn dann hätte sie einen super Spitznamen für mich, Mikro nämlich, weil ich so klein sei. "Jepp, aber ich heiße ja nicht Mirko." Was hatten wir Spaß zusammen. Ein Kollege hieß Max und hatte schon mit Anfang 20 eine Glatze, und irgendwann fing sie an ihn Maximilian zu nennen, und niemand verstand den Witz, bis sie eines Montages - natürlich im Pausenraum - anfängt ihn "Leukemilian" zu nennen, weil Krebs, und er hat ja keine Haare, und fast niemand lacht, aber das ist okay, denn die gute Ute lacht für alle mit. Die eigenen Witze sind doch die besten.

Je nach Vertrautheit mit den Kollegen gingen die Witze teils tief unter die Gürtellinie. Zum Teamleiter, dem Micha, ihrem besten Freund im Büro, war sie besonders brutal. Sein wunder Punkt: eine schmerzhafte Scheidung, die ihm vor kurzem Kind und Kegel gekostet hatte. Aber Ute ist eine Gute und hat immer tröstende Worte parat: "Keine Sorge[sie kichert, muss Luft holen], sie hat den Neuen bestimmt nur genommen [ihre Lippen zu einem riesigen Grinser verzogen, es folgt ein Ulk der seinesgleichen sucht] weil er einen viel größeren Penis hat!"

Und hat sie mal einen wunden Punkt gefunden, lässt sie so bald nicht los:

"Hey Micha" ruft sie später quer durchs Büro, und in mir zieht sich schon alles zusammen. Jetzt kommt es wieder. Das schwerfällige, gekünstelte Setup. "Sag mal, sind eigentlich gerade Schulferien in NRW?" Sie kann sich kaum halten, ihr immenser Körper zittert vor unterdrücktem Lachen. Der als Punchline getarnte, abmahnungswürdige HR-Verstoß. "Ach ne, sowas muss dich jetzt ja nicht mehr interessieren!". Der traurige Versuch des Teamleiters, humorvoll Retoure zu geben. "Ich werf dir gleich den Tacker annen Kopp!"

Und so macht sie ihre Witze, und jede Grenze darf überschritten werden, denn Humor ist Humor, und bei uns geht man ja nicht zum Lachen in den Keller. Außer natürlich über ihr Gewicht, das würde zu weit gehen. Aber Scheidung, Pener, Krebs, Pener, Veganer, Fisting, Pener, Politik und Religion - das gehört natürlich alles an den Arbeitsplatz.

Denn bei uns ist man eine Familie, und die Ute, datt is' ne Gute.

Donnerstag, 23. Februar 2023

Mezzanine

Kann nicht pennen und hab mich an ein erfolgloses Date erinnert, hoffe die Geschichte ist zumindest halbwegs kohärent. Gute Nacht.

____ 

“Na?”, schrieb sie, auf Bumble.
“Hey”, schrieb ich zurück.

Und drei Stunden später saß sie dann neben mir auf einer Parkbank an der Ahr. Sie erzählte mir vom Hund und von ihrem Sohn und von ihrem Ex, der ihr immer mal wieder Geld schuldete, und von ihren Eskapaden in Australien, das war bevor sie den Sohn hatte, und ich hörte nur halb zu. Da ich selbst nicht viel zu erzählen hatte, waren mir ihre ausschweifenden Geschichten, von denen die Hälfte offensichtlich erfunden waren, ganz recht.

Ich sähe jünger aus als auf meinen Fotos, sagte sie. Du auch, log ich. Irgendwann hole ich meine Flasche Rotwein raus, den trockenen Roten aus Walporzheim, und sie lacht und sagt sie habe dieselbe Idee gehabt. Sie öffnet ihren Rucksack, zeigt mir die Flasche, trocken, rot, zu meiner Freude, und ich teile meine Flasche mit ihr, schmecke den Zigarettenrauch am Flaschenhals, und sie teilt ihre dann später mit mir. Es wird dunkel und ich hole die Decke raus, und wir decken uns zu. Sie wird kuschelig und noch ist mir das ganz recht.

“Ich muss dir was sagen”, sagt sie.  “Ich wohne aktuell bei meiner Mama. Die hilft mit dem Sohn und dem Hund." Und ich frag mich, ob mich das stören sollte, schließlich habe ich längst beschlossen, dass ich nie zu ihr gehen werden, und höre ohnehin kaum noch zu. Wäre ich einen Kopf größer, sagt sie, könnte sie richtig Interesse an mir haben, während sie unbeholfen an meinem Reißverschluss rumfummelt. Ach, sag ich nur.

Irgendwann stehen wir auf, gehen um kurz vor Ladenschluss noch in den Edeka, kaufen jeder noch eine Flasche Wein, einigen uns auf den trockenen Roten aus Walporzheim. Die Kassiererin fragt mich nach dem Ausweis, und ich lache, denn ich habe längst die dreißig hinter mir, und ich bin ihr sofort verfallen, ein nettes Wort und sie hat mich. Aber stattdessen spaziere ich kurz darauf mit der Bumble-Frau durch die Weinberge, die gewölbte Bank suchend, auf der man so gut Gitarre spielen kann. Wir schauen aufs Tal runter, die dritte Flasche fast leer, ihre Hand wieder in meiner Jeans. Das Gespräch wieder langweilig, einseitig.

“Ich glaub das wird nichts mehr.”, sag ich, und sie zieht ihre Hand raus. “Wollen wir vielleicht zu mir gehen?” fragt sie, “meine Mutter schläft sicher schon.” Aber die Mutter schlief nicht, sondern begrüßte uns, und ich nicke ihr zu, und kann kaum noch laufen, trinkfest war ich noch nie, und sie, also das Bumble-Date, zerrt mich die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer, mit niedriger Decke, das zweifelsohne mal ihr Kinderzimmer gewesen sein muss. “Mein Sohn schläft nebenan, wir müssen leise sein.”

Mir ist das nur recht, denn eigentlich will ich nur pennen. Sie geht pissen. Draußen hört man den Fluss, der aktuell nur ein kleines Bächlein ist, leise plätschern. Ich finde es gemütlich, bis sie zurück kommt. Die Zähne offenbar nicht geputzt, der Rauchgeruch ist unerträglich. Sie ermahnt mich, mit einem Ton der verspielt klingen soll, dass man ja im Bett keine Jeans trägt, und sie zieht mir die Jeans aus, und mir fällt auf, dass uns gar kein Hund begrüßt hat - ob sie den wohl nur erfunden hat? -  und ich frage, ob ich Musik anmachen kann und bin froh um die Ausrede, mich unter ihr ausgraben und aufstehen zu können.

Vielleicht bringt mich Mezzanine, ein Album das mich schon bei mancher Begegnung begleitet hat, in Stimmung. Und während ich wieder liege erinnert mich jedes Lied und jeder Takt an eine andere Begegnung, an Zeiten in den ich noch Freude an dieser Art von Abend hatte, an denen ich noch im Hier leben konnte, im Jetzt, präsent, und offen für jede Frau die mich wollte.

Nostalgisch schlafe ich ein, genervt wache ich auf. Mein Date reitet mich, mir ist übel und mein Kopf tut weh. Ich fühle mich untenrum taub, zu schwer die ist Last auf meinen Hüften, zu gleichgültig und zu blau bin ich. Trotz ihrer Bemühungen schlafe ich irgendwann wieder ein und werde erst wieder wach, als sie mir laut schnarchend stinkende Luft ins Gesicht bläst. Ich rolle mich aus dem Bett und schleiche mich aus dem Haus. Es ist noch dunkel, aber die Vögel kündigen bereits die Dämmerung an.

Während ich die Ahr hinauf nach Hause laufe, vibriert irgendwann mein Handy. Ihre Nachricht ist zu böse und zu lang, um sie ganz zu lesen, irgendwas mit Napoleon, irgendwas mit Impotenz, wen kümmerts. Ich löse das Match auf, habe ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr auf der Suche nach Nähe nicht helfen konnte und fühle mich zum ersten Mal ein wenig mit ihr verbunden.


Mittwoch, 15. Februar 2023

Nora

 

Mai, irgendwann um 2007 rum. Die neunte Klasse und damit meine Schulzeit neigen sich dem Ende zu. An einem lauen Abend hänge ich mit meinem Freund Kevin am späten Abend auf einem Kinderspielplatz herum. Nur die Schaukeln, auf denen wir sitzen, sind noch halbwegs intakt.

 

Das Klettergerüst ist beschmiert mit amateurhaftem Graffiti, die Rutsche hat einen dicken, braunen Streifen in ihrer Mitte. Rost, hoffe ich. Der Sand ist voll mit Kippen, überall liegt Müll. Kinder spielen hier selten.

 

Kevin hat bereits seine dritte Dose Kölsch geleert, fängt die vierte an, ich bin noch bei der zweiten. Für unser Alter sind wir sehr nostalgisch und fangen jedes neue Thema mit der Phrase „weißt du noch?“ an. Während wir in Erinnerungen schwelgen und uns Geschichten erzählen, von denen wir beide wissen, dass sie völlig übertrieben sind, aber es aus Respekt vor dem anderen nicht aussprechen, wird es dunkel. Irgendwann legt sich Kevin in den Sand und fängt zu schlafen an. Ich sitze weiter auf der Schaukel, nippe zwischendurch an meinem Bier und genieße das absolut perfekte Maß an Beschwipstheit.

 

„Was macht ihr denn hier noch?“ fragt eine Mädchenstimme, und plötzlich bin ich wieder hellwach. Nora aus der 9c. „Ähm, nix“ sage ich, und hoffe inständig, dass ich dabei cool und gleichgültig wirke. „Geht’s deinem Freund gut?“ fragt Nora. „Ja der pennt nur.“

 

Was trinkstn da, fragt sie, und ich sage Bier. Biete ihr einen Schluck an. Mit einem Blick auf Kevin verneint sie. Ich hoffe sie denkt, ich habe meinen Teil zu den vier Dosen beigetragen, die um Kevin herum verteilt sind. Hoffe sie vergisst für einen Moment, dass wir im selben Jahrgang sind. Hoffe dass sie mich für erwachsen und draufgängerisch hält. Hoffe, dass sie sich nicht mehr daran erinnert, wie ich in der Dritten mal wegen Durchfall von der Schule abgeholt werden musste.

 

„Weißt du schon, was du nach der Schule machst?“, fragt Nora.

„Noch keine Ahnung. Hab mich beworben, aber bisher noch nichts. Du?“

„Erstmal noch ein Jahr Schule, für Real“, sagt Nora. „Hmm“, sage ich und bin etwas traurig, dass meine Noten nicht für die Quali gereicht haben.

 

Wir reden noch ein bisschen, Nora sitzt auf dem Rad, raucht eine Zigarette, mein zweites Bier neigt sich dem Ende zu. Die Schwelle der angenehmen Beschwipstheit habe ich hinter mir gelassen. Ich bemühe mich um einen gleichgültigen Ton und frage irgendwann, mit all dem Charme eines betrunkenen Teenagers der nachts auf einem Kinderspielplatz billiges Aldi-Dosenbier trinkt: „Kannst mir deine Brust zeigen?“

 

Nora lacht. Die linke oder die rechte, fragt sie. Ich muss knallrot geworden sein. Ich bete, dass Kevin nicht aufwacht und stammle vor mich hin… „ähm, die rechte?“ und weil ich das für höflich halte: „Bitte?“

 

Nora steckt sich von oben die Hand ins Top und zieht sie sofort wieder mit erhobenem Mittelfinger raus. „Schön, oder?“. Ich sterbe innerlich und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. „Haha, ja“. Die nostalgische, gemütliche Stimmung habe ich damit ruiniert. Nora bleibt nicht mehr lange. „Wenn sich das rumspricht…“ denke ich kurz, bis mir einfällt, dass die Schule eh bald enden wird.

 

Irgendwann schwinge auch ich mich auf mein Rad. Während ich nach Hause radle, denke ich an Nora und daran, dass ich die Schule vermissen werden und frage mich, ob ich nicht irgendwas vergessen habe.