Freitag, 30. Juni 2023

Pissdisking

Manche Fragen stellten sich fast jedem Teenager mal: wie geht es nach der Schule weiter, wie gefalle ich dem anderen Geschlecht, wie erzähle ich meinen Eltern von der schlechte Note?

Andere Fragen stellten sich wohl nur mir: wie pisse ich Ingo Berg, genannt Ingeborg, in den Briefkasten? 

Die Idee ließ mich nicht los. Nachdem Ingeborg mir eine CD mit fürchterlichem Inhalt untergejubelt - und mich damit vor mindestens einem Elternteil fürchterlich blamiert hatte - wollte ich Rache. 

Ingeborg lebte mit seinem Bruder einer eigenen kleinen Wohnung im Souterrain im Haus der Eltern, mit eigenem Briefkasten, und Kevin hatte die Idee, dass wir Hundestuhl sammeln und beim ihm in den Briefkasten werfen könnten.

Die Idee gefiel mir nicht. Erstens störte mich die Vorstellung, draußen rumzulaufen und Stuhl zu suchen. Das fand ich würdelos und nicht elegant. Außerdem verlangte die Ehre: wenn Exkremente in Ingos Briefkasten landen, so sollten es meine sein. Aber wie?

So ging ich dann mal am Wochenende an Ingeborgs Haus vorbei, um die Lage zu checken. Diese war ernüchternd: der Briefkasten des kleinen Einfamilienhauses war deutlich außerhalb meiner Reichweite, und zudem von der Straße aus sehr sichtbar. Also zurück zu Kevin geradelt, der gerade mit seinem Cousin aus dem Ruhrpott Nintendo zockte, und das Problem beschrieben. 

Der Cousin, ohne zu zögern, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt:  "Ja dann musst du den halt pissplatteln." Was? "Ja pissplatteln. Also Pisse in einer Rohlingspindel einfrieren und die Pissplatte dann den Briefschlitz stecken."

Es war so elegant. Es war so stilvoll. Es war, so darf ich heute sagen, fast schon nobel. Als würde ich ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. CD-förmige Rache. Gelbe, gefrorene Gerechtigkeit. 

Und wie es der Zufall will, hat Kevin in seiner Garage eine große Gefriertruhe, und so frieren wir unsere Pisse in zwei Spindeln von CD-Rohlingen ein. Kevin hat zwar keine Rachegelüste, aber wie ein Golden Retriever will er einfach dabei sein und mitmachen. 

So ziehen wir los, perfide Postboten der Pisse. 

Nach der Lieferung frag ich Kevin, wer seine Zustellung erhalten hat, und Kevin erklärt, dass er sich einen beliebigen Nachbarn ausgesucht hat, damit das Verbrechen willkürlich wirkt, damit niemand auf uns kommen kann. Ich halte die Logik für so wasserdicht wie die Deckel der CD-Spindeln, aber weil wir dumme Teenager sind, können wir es natürlich nicht bei unserem perfekten Verbrechen belassen. 

Stattdessen machen wir "Pissdisking" (denn wir sind cooler und moderner als die Ruhrpottkinder) zu einer Art Sport. Täglich landen irgendwo unsere Disks in irgendwelchen Briefkästen. Jede leichte Provokation wird mit einem nassen Briefkasten geahndet, und für jeden Racheakt kommen drei weitere, widerlich-willkürliche Zerstörungsakte hinzu.

Dann flogen wir zu nah an die Sonne, Peekarus, sozusagen:

Statt es einfach dabei zu belassen, gingen wir zu Ingo, um uns mehr leere Spindeln zu besorgen. Durch seinen Bruder hatte er davon haufenweise über. Die Dreistigkeit dieser Idee gefiel mir besonders und nach ein paar Wochen hatten wir zehn Spindeln zusammen. Um beim Verteilen der Pissdisks nicht aufzufallen, haben wir sie Prospekte gesteckt und sahen für Beobachter aus, wie Jungs die sich etwas Taschengeld dazu verdienen. 

Bis uns einer von Ingos Nachbarn, unser erstes willkürliches Opfer, bei frischer Tat ertappte. 

Prospekt in den Briefkasten, Tür geht auf, der Herr nimmt die Pissplatte direkt aus dem Briefkasten, sieht uns, wir rennen weg. Er erzählt die Geschichte rum, von den Jungs die CDs auf Pisse in Briefkästen verteilen, und irgendwie hört Ingo davon - und zählt natürlich eins und eins zusammen. 

Irgendwann radel ich dann nach der Schule nach Hause und Ingos Bruder fängt mich ab, verpasst mir die Prügel meines Lebens. Verdient? Ja, vermutlich. 

Der Pitch (Jochen, Teil 2)


"Meine Eltern kommen heute vorbei", sagte meine Freundin, Domi, und sofort ging meins Puls hoch. 

Zweimal hatten uns ihre Eltern besucht. Es ging beide Male um Geld. Einmal wollte uns ihre Mutter zeigen, wie man richtig einkaufen geht. Da hatten wir gerade unsere erste eigene Wohnung, waren fast volljährig, und ihre Mutter, um guten Willen zu zeigen, wie ich dachte, ging mit mir zu Aldi. Sofort merkte ich, dass ich von der Frau nichts lernen konnte. "Nimm doch diese Teewurst, die kostet 20 Cent weniger." Ja, aber ist halt auch nur halb so viel drin. "Nimm am besten die Eigenmarke, die ist billiger." Ja danke, ich bin ja auch zum ersten Mal in einem Laden... An der Kasse angekommen legte sie dann zwei Schachteln Kippen mit aufs Band, "so als kleines Dankeschön für die Hilfe", sagte sie. Und ich sagte das könne sie vergessen, und dass ihre Tipps nutzlos waren, und dass sie mich nur ausnutzen wollte.

Beim zweiten Mal wollte Jochen mir ein Geschäft vorschlagen, und ich müsste nur 150 € investieren und er würde es in sechs Wochen verdoppeln. Er habe ein Händchen für sowas. Wenn er ein Händchen für sowas hätte, warf ich ein, wieso muss er sich dann 150 € von einem arbeitslosen Teenager leihen? Diplomatie war nicht meine Stärke, aber mein Bullshit-Detektor war präzise kalibriert. Die Frage passte ihm gar nicht, und er warf mir Arroganz und Geiz vor. Dass ich beim besten Willen keine 150 € gehabt hätte, erwähnte ich erst gar nicht.  

Ich hatte schon damit gerechnet, dass Domis Eltern bald aufschlagen würden, denn ich hatte, zum Teil durch Aufstocker-Jobs, von denen ich nur 100 € im Monat behalten durfte, genau 1250 € für den Führerschein auf einem Sparbuch geparkt. Einen nicht unerheblichen Teil dieser Summe hatte ich also mit Arbeit verdient, für die ich effektiv nur 1-2 € die Stunde bekam. Das Sparen hatte deutlich über ein Jahr gedauert, und ständig hatte ich mich bei Domi darüber beschwert, wie viele Stunden ich nun schon investiert hatte, was ich mir alles nicht gekauft hatte, und wie lange ich mich schon auf die mit vielen Arbeitsstunden erkauften Fahrstunden freute.

Und so kam es, wie es kommen musste, und Domis Eltern, mit den beiden Spikes im Schlepptau, die Mutter dürr und dreckig, der Jochen fett, beide eckzahnlos, saßen in unserem winzigen Wohnzimmer auf dem Sofa, Domi und ihre Eltern rauchend, die armen Spikes gleich passiv mit, und ich genervt, dass ich nicht WoW zocken konnte. So begann der erbärmlichste Investment-Pitch der Geschichte:

"Wir haben eine Geschäftsidee", erklärte Jochen dann, und erzählte davon, dass er Kaugummiautomaten aufstellen wollte, zuerst in seiner Nachbarschaft, aber dann, im großen Stil, auch in Köln in der Innenstadt und vor Supermärkten und so, und mit anderen Süßigkeiten, und später auch mit Zigaretten. "Dürft ihr das überhaupt?" frag ich, und Jochen, genervt, dass ich mich mit Details beschäftige, denn er will zum Punkt kommen, sagt: "Ja wer soll denn was dagegen haben?"

Die Idee könnte klappen, aber das Geschäftskonzept ist überhaupt nicht durchdacht. Er rechnet kurz vor, ein Kaugummi kostet im Einkauf X und im Verkauf Y, also ist Y-X purer Gewinn. Passives Einkommen, sozusagen, obwohl das damals noch kein Modebegriff war. Und was kosten die Automaten, frag ich,  aber "das ist ja nur eine einmalige Investition". Und wenn der geklaut wird? "Ja hast du schonmal einen geklauten Kaugummiautomaten gesehen?" Und was ist mit Spritkosten, und muss man da nicht Steuern zahlen oder so? Aber all die Details nerven Jochen, er will nur zum Punkt kommen: 

"Egal, auf jeden Fall brauchen wir noch einen Investoren. Für die Automaten erstmal. Da haben wir natürlich an dich gedacht." Natürlich, liegt ja auf der Hand. "Wir brauchen nur noch 1250 €".

Und als er die Zahl nennt, werde ich erst traurig, dann wütend, dann wird mir klar: wenn ich irgendwie rauskommen will aus all der Scheiße, aus der Armut, weg von den Scheißjobs, von den Kippen und der Sinnlosigkeit, von der Wehmut die ich jeden Abend verspüre, wenn ich wieder den ganzen Tag verzockt habe, muss ich weg von ihr. Zusammen kommen wir da nicht raus, alleine habe ich vielleicht eine Chance. 


Samstag, 24. Juni 2023

Busfahrersohn

Im Leben eines Kindes kommt irgendwann die Erkenntnis, dass die Eltern nicht allwissend sind. 

Mich hat diese Einsicht erwischt, als ich so fünf oder sechs Jahre alt war. Ich fuhr mit meinem Vater durch das Ruhrgebiet und - warum auch immer - mir stellte sich die Frage, wo eigentlich Wolken herkamen. Wie jede Frage, die nichts mit LKWs zu tun hatte, nervte sie meinen Vater, der eigentlich nie was wusste, das aber sicher. 

Seine Antwort: na aus den Kühltürmen, siehst du doch, und zeigte auf einen Kühlturm eines Kraftwerkes an dem wir vorbeifuhren. Und ich, der Sechsjährige, fand das für einen Moment plausibel, man sieht es ja, da kommen ja Wolken raus, und die gehen auch nach oben. 

Aber irgendwas störte mich an der Erklärung. Zu der Zeit war ich großer Fan von Dinosauriern, und ich hatte einige Dinobücher von Verwandten geschenkt bekommen. Und eins wusste ich sicher: zur Zeit der Dinos gab es noch keine Menschen, aber es gab schon Wolken. 

Als dann die Schule anfing, hatten wir solche Momente häufiger. Eine Rechenaufgabe, die ich nicht verstand? Frag deine Mutter. Ein schwieriges Wort in einem Text? Lass mich damit in Ruhe. Besonders gegenüber meiner neuen Leidenschaft, dem Lesen, war er sehr skeptisch. Alles was er nicht verstand war pauschal "schwul". Alles Sinnliche, oder Intellektuelle, oder Künstlerische. Einmal kam ich mit einer Notiz von Frau Bauer, meiner Klassenlehrerin, nach Hause. In meinem Schreibheft, ein glitzernder Sternsticker, daneben der Satz: "Prima, Stefan, du hast heute sehr gut vorgelesen!"

Aber anstatt Lob zu kassieren, und vielleicht ein "weiter so", oder ein "was hast du denn vorgelesen?" kam nur die Anmerkung, dass ich ja auch eine Schwuhctel sei, und überhaupt, warum lernt man denn nicht mal was richtiges in der Schule? Beim nächsten Vorlesen war ich dann zögerlicher. 

Dass seine Kinder kein Interesse an seinem Hobby zeigten, nervte ihn tierisch. Manchmal versuchte er, uns in seinem Hobbyraum, der eigentlich ein Kinderzimmer sein sollte, sein fürchterliches Hobby nahezubringen: Modell-LKW lackieren und in Vitrinen ausstellen. Wir hassten das Hobby. Natürlich fanden wir es zutiefst langweilig und stupide, aber mehr noch nervte es uns, dass wir uns ein Zimmer teilen musste, damit die "Modell-KWs" ihr eigenes Zimmer haben konnte. 

Irgendwann sah ich ihn über einem Brief vom Sozialamt brüten. Das war nachdem er seinen Job verloren hatte und ich schon fast mit der Grundschule durch war. Und wie ich ihn da sitzen sah, mühsam Wort für Wort lesend, und die Lippen bewegend, zurück zu Satzanfängen springend, weil er den Faden verloren hatte, tat er mir irgendwie leid. Dann bemerkte er mich, fühlte sich ertappt, schrie irgendeine verletzende Obszönität, drohte mit Gewalt wenn ich nicht verschwände, und alles Mitleid war vergessen.

Einmal, in den Sommerferien, durften meine Schwester und ich in ein Ferienlager fahren; die lokale evangelische Kirche hatte Unterschichtskindern einen Zuschuss gezahlt. Meine Schwester fand sofort Anschluss bei den größeren Kindern, aber ich hatte es schwerer. Die anderen Kindern, meist junge Teenager, hatten ein gutes Gespür dafür, wer die Bezuschussten waren und die freiwilligen Betreuer halfen auch nicht gerade. Irgendwann gab es eine Vorstellungsrunde, und der kleine Stütze wurde natürlich gefragt, was sein Vater beruflich macht. Oh Gott. Jede Frage, nur nicht diese. Die Wahrheit war keine Option, zu sehr schämte ich mich für den kleingeistigen Vater, der nichts als seine LKW kannte, dessen liebe für seine "Brummis" tief in die Freizeit reinragte. Der keine Neugier besaß, und keine Ambitionen, bequem und fett und fies. 

Also musste eine Lüge her. Arzt, oder Zoodirektor, oder Buchhalter, alles was nobler, oder interessanter, oder wenigstens besser bezahlt wäre. Doch kein Beruf fällt mir ein, und ich haue raus: "Busfahrer"

Vereinzeltes Kichern, ich werde rot. Ich sehe mich flehentlich nach meiner Schwester um, die so tut als kenne sie mich nicht, und irgendjemand brüllt "Busfahrersohn!" Schallendes Gelächter und ich habe einen Spitznamen für den Rest des Ferienlagers. Nach zwei Wochen, vielleicht warens auch vier, holt Mutter uns am Pfarrhaus ab. Meine Schwester küsst ihren neuen Freund energisch und mit Zunge zum Abschied und irgendein Kind ruft "Schönen Urlaub noch, Busfahrersohn" zu mir. Mutter registriert beides nicht, und wir fahren zurück in die Platte. Arbeitet Vater heute, frage ich, und halte bis zur Antwort die Luft an. 

Sonntag, 11. Juni 2023

Der Sub-Sub-Subunternehmer

Kennt ihr diese Jobs, die nur existieren, um irgendeine alberne gesetzliche Anforderung zu erfüllen?

So eine Stelle hatte ich 2013-2014. Ein typischer Arbeitstag sah etwa so aus:

Abends ruft mich die Dispatcherin an, "kannst du morgen nach Nürnberg fahren?"

Okay, sag ich, und bete, dass es kein Druckerumzug ist. "Ist ein Druckerumzug, bitte den Kollegen in Karlsruhe abholen."

Also gehe ich am nächsten Morgen zu Sixt, Mietwagen steht bereit, ab jetzt "verdiene" ich Geld. 

Fahre also nach Karlsruhe. Da hole ich den Kollegen ab, ein Kettenraucher Namens Sergejy oder Ivgeniy Prktologowyzc.

Zusammen fahren wir dann von Karlsruhe nach Nürnberg zu einer Liegenschaft der Bundeswehr. Die haben einen IT-Dienstleister, damals die BWI, heute keine Ahnung, die wiederum einen Logistiker haben, der wiederum einen Personaldienstleister hat. 

Für die letzte Firma in der Kette (die auf "Consulting" endet, falls hier ein früherer Kollege mitliest) arbeitete ich, und verdiente 8,25 € die Stunde. Verkauft wurde ich als "IT Systemtechniker" oder was auch immer, für 39 € die Stunde. Die Verträge waren auf Tagesbasis, also für jeden Auftrag musste ich einen neuen Vertrag unterschreiben. 

Ein guter Tag lief so: zu Sixt radeln, manchmal zu Enterprise, Auto mieten, von HD nach Koblenz oder Bonn, einmal sogar nach Hamburg, in einer Liegenschaft Maus und Tastatur oder ein HDMI-Kabel austauschen, und wieder fünf Stunden nach Hause fahren. Da schätzt man sein Tageswerk: den Steuerzahler 250+ € kosten, dabei selbst kaum Kohle kriegen, und effektiv vielleicht zehn Minuten arbeiten.

Dieser Tag war einer der nicht so guten. Druckerumzüge durften wir nicht allein machen, und wo soll man in einer Kaserne auch schon jemanden zum Anpacken finden, also durften wir zu zweit durch die Republik fahren, einen Netzwerkdrucker abbauen (Ethernet- und Stromkabel ziehen), irgendwo anders wieder aufbauen  (Ethernet- und Stromkabel einstecken). Im schlimmsten Fall drei Räume weiter auf demselben Flur. Hab ich erwähnt, dass die Teile Rollen haben? 

Egal, also ich fahre mit irgendeinem Alkoholiker und Kettenraucher, der keinen Führerschein mehr hat, nach Bayern. Ständig schreit er rum, weil jemand auf der Autobahn nicht schnell genug, oder zu schnell fährt, raucht eine Kippe nach der anderen, ignoriert, wenn ich ihm sage er soll das lassen, schlägt plötzlich aufs Amaturenbrett, weil er wohl auf dem Handy was sieht, was ihm nicht passt.

Vielleicht nicht ganz zufällig, war das die Zeit, zu der ich anfing, jede Ausgabe in Arbeitsstunden umzurechnen. Warmmiete? 42 Stunden. Wocheneinkauf? Fünf Stunden. Der Unterschied zwischen Raststättenkaffee und selbstgekochtem Instant? Acht Minuten Autofahrt neben Krawczyk, dem kettenrauchenden Choleriker. 

Wir kommen an, Druckerumzug dauert 15 Minuten, runden wir auf eine Stunde auf. Macht den Kohl auch nicht mehr fett, mittlerweile wurden bestimmt schon 10 Arbeitsstunden berechnet. Sorry, Steuerzahler.

Dispatch ruft an: "Wo ihr schonmal in Bayern seid, könnt ihr morgen nach Stetten fahren? Da ist ein Rollout, die brauchen noch Leute."

Also gut, auf gen Stetten, übrigens in BaWü, nicht in Bayern, aber weil der Tag fast vorbei ist, fahren wir erstmal in Augsburgs widerlichstes Hostel, wo für uns zwei Betten in einem Viiiielbettzimmer gebucht wurden. Das macht übrigens der Logistiker, nicht der Personaler, und vermietet die Plätze dann an den Personaler weiter. Sicher nicht ohne deftigen Aufschlag.

Aber egal, ich denke an die üppigen Stunden am nächsten Tag, an die 15 € Verpflegungsgeld, die bei jeder Übernachtung fällig werden. Mentale Buchführung: fünf Stunden noch, bis ich die Miete für nächsten Monat zahlen kann. Dann nochmal zwölf für die Verpflegung, und nochmal zwei oder drei für ein schönes Date mit der dickbusigen Svenja.

Rechnet noch jemand mit, wie viel der Ausflug den Steuerzahler bisher kostet?

Nächster Morgen, Mojciech hatte wohl eine schlechte Nacht, flippt beim Fahren mehrfach völlig aus. Wirft irgendwann wütend sein Handy auf die Rückbank. Ich fahre ihm nicht schnell genug, er ist zu dumm zu verstehen dass wir für die Fahrzeit genauso bezahlt werden wie für den Rollout, also greift er irgendwann ins Lenkrad, um mich auf die linke Spur zu bugsieren. 

So nicht du Spacko, denk ich mir und fahre die nächste Raststätte an. "Du trinkst jetzt erstmal nen Kaffee, bist ja kaum auszuhalten", sag ich zu ihm. Polatzki steigt aus um sich einen Kaffee zu holen, lässt das Handy im Wagen. Er geht rein, ich fahre weiter, zurück auf die Autobahn, und dort auf den nächsten Parkplatz.

Ja hallo Dispatch, ich warte jetzt seit über 'ner Stunde auf den Kollegen. Der wollte kurz zum Lidl um sich Schnapps zu holen. Jetzt ist er verschwunden. Ne ich erreiche ihn nicht. Ja der geht nicht ans Handy. Ja seit 'ner Stunde schon, ich muss jetzt echt zum Rollout.

"Ja dann fahr schonmal los, wir versuchen ihn zu erreichen." Viel Glück, denk ich mir, und werfe sein Nokia in einen Raststättenmülleimer.

Beim Rollout bauen wir dann PCs auf, legen Kabel, schließen Telefone an etc. Mal zu dritt, mal zu zehnt, mal dauerts zwei Tage, mal 'ne Woche. Immer gemütlich, denn jeder braucht die Stunden, und von oben kommt kein Druck, weil unser Boss, und sein Boss, und sein Boss, an jeder Stunde gut verdienen. 

Wem das Geld nicht reichte, der durfte entweder hoffen, zufällig an dem Tag "Teamleiter" zu sein und 50 Cent pro Stunde mehr zu verdienen (besonders geil bei Aufträgen zu zweit, bei denen dann der Geringverdiener den anderen automatisch hasste). 

Oder er machte es wie die älteren Kollegen und holt sich die Festplatten und Arbeitsspeicher aus den zu entsorgenden Alt-PCs. Gerade bei den HDDs aus Bundeswehrrechnern natürlich eine tolle Idee...

Der ganze Job existierte nur, weil die Soldaten nicht ihre eigene Hardware austauschen durften, nichtmal Peripherie, irgendwas mit Versicherung. 

Egal, am Ende zahlt es eh der Steuerzahler. Also ihr. Und ich brauchte die Schichten. Danke auch. 

Dienstag, 6. Juni 2023

Baustoffe Gernhardt Reinholtz GmbH

Die Stellenanzeige sprach mich direkt an:

“Keine Kenntnisse oder handwerkliches Geschick benötigt, etwas Deutsch wäre gut.”

Bewerbung lief übers Telefon und war auch keine große Hürde, können Sie sechs Stunden am Stück stehen, bissl mit anpacken? Ja okay, welche Größe brauchen Sie? Na gut, wir sind hier per du, komm mal am Samstag um halb sieben vorbei.

Und so gehe ich zur Baustoffe Gernhardt Reinholz GmbH, bezahltes Probearbeiten, 8,13 € die Stunde, quasi nichts und dennoch mein höchster Verdienst in den letzten zwei Jahren. Um mich herum, Polen, Studenten, Lagerhelfer. Jeder raucht, manch einer, so vermute ich, hat Schnaps in der Kaffeekanne. Der einzig ausgebildete Lagerist, Udo, gibt den Ton an.

Es gibt nur eine Regel, sagt er, und erklärt uns zwei Regeln: Wenn ich auf dem Bock sitze, will ich Ruhe im Puff. Und wenn ich Frauen hier hab, sagt denen nix von anderen Frauen. Als einziger grinse ich dämlich, denke er macht Witze. Aber er, Mittvierziger mit halb leerer Kauleiste, guckt mich nur ernst an. Später sagt einer der polnischen Kollegen zu mir: “Man glaubt es nicht, aber was der Typ wegnagelt ist unglaublich. Jede Woche ‘ne neue Perle.”

Der Job war voll in Ordnung. Wir mussten LKWs und Sprinter ein- und ausräumen, viel mit Sack- und Schubkarren bewegen, und wenn es richtig schwer wurde, kam Udo auf seinem Bock. Wenn er nicht gerade Paletten oder Frauen aufgabelte, machte er die Schichtpläne, und weil er ein guter Kollege war, und der Rest von uns arme Schlucker, waren die Schichten immer überbesetzt. So saßen immer ein Drittel der Arbeiter irgendwo rum und unterhielten sich, häufig über Udos letzte Eroberungen. Was diese anging schien er nicht wählerisch zu sein. Ständig kamen ihn neue Frauen besuchen.

Teilweise fitte Studentinnen die halb so alt waren wie er, teilweise gewaltige Buttergolems die nach dreißig Jahren Hartz 4 aussahen. Teilweise brachten sie ihm Mittagessen oder Kuchen, und für jede Frau die ihm in seinem Büro besucht erzählte er uns von drei anderen, die er in seiner Freizeit traf. Einmal berichtete er von einem Wochenende, an dem er Samstags “eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern in drei verschiedenen Brauntönen” traf und Sonntags noch zu einer Prostituierten ging; der Hunger des Flurförderfickers war unstillbar.

Während ich Schrauben sortierte oder Paletten belud dachte ich über den Erfolg des mysteriösen Mösenmörders nach. Was macht ihn, einen dicken Dauerraucher, die besten Jahre längst hinter sich, kaum noch Haare und nicht sonderlich groß, für die Damenwelt so anziehend? Irgendwann endete auch der Job, mein Vertrag wurde nicht verlängert, denn sonst hätte man mir 9 € zahlen müssen, also verließ ich das Lager schweren Herzens.

Gut zehn Jahre später und Udo längst vergessen endet für mich eine erfolglose Tinder-Beziehung. Woran hattet jelegen, frag ich, und die Frau erklärt mir, dass mein langweiliger Bürojob ihr immer ein Dorn im Auge gewesen sei. Ihr letzter Freund, Tierarztstudent, ihr neuer Freund, Staplerfahrer. Ein echter Männerjob eben, harte körperliche Arbeit, handwerkliches Geschick und gutes Gehalt, sagt sie. Ich will ihr in allen Punkten widersprechen, bin verwirrt und komme zu dem Schluss, dass man als Mann im Berufsleben eine Wahl zu treffen hat:

Mach den Staplerschein, oder sei für immer Mann zweiter Klasse, und blicke neidvoll von unten hinauf, auf das Pantheon der Flurförderfahrzeugführer, auf die Götter auf dem Bock.

Sonntag, 4. Juni 2023

Der Ruf des Rattenkönigs

Der Ruf des Rattenkönigs eilte ihm weit voraus.

Nachdem ich die zehnte bis zwölfte Klasse in Abendschulen hinter mich gebracht, und nebenbei in einem Callcenter gearbeitet hatte, wollte ich die dreizehnte Klasse - und damit das Abitur - in Vollzeit absolvieren. Das Schülerbafög würde gerade für die Miete reichen, aber ich hatte gute tausend Euro zusammengespart, die für Lebens- und Haushaltsmittel reichen mussten.

Das Kolleg sah vormittags nicht groß anders aus als abends, aber die Schüler und Lehrer schienen irgendwie entspannter. In der erste Pause des neuen Schuljahres stellte ich mich meinen neuen Klassenkameraden vor, und das Gespräch fiel auf Computerspiele.

“Lass bloß den Rattenkönig nicht hören, dass du zockst. Den wirste nie mehr los”. Der Rattenkönig, so erfuhr ich, war seit Ewigkeiten am Kolleg, etwas dümmlich, ein Dauerzocker, ein komischer Kauz, unbeliebt und irgendwie creepy. Wer sich auf ein freundliches Gespräch mit ihm einlässt, so die Legende, fände einen Freund für’s Leben - wider Willen.

In dem Moment beschloss ich, dass ich, der sich selbst oft als Außenseiter gefühlt hatte, nett zum Rattenkönig sein würde, der seinen Ruf sicher nicht verdient habe.

Ein Vorteil der Vollzeitschule gegenüber dem Abendunterricht waren die freiwilligen AGs, und ich schloss mich der AG “Englische Literatur” an. Teils aus echtem Interesse, teils weil sie von einer Studentin aus Brighton geleitet wurde, deren Akzent sie für mich unwiderstehlich und ihr Aussehen sie auch für mich erreichbar machte. Da begegnete ich ihm.

“Midget Pritchett ist noch nicht da.” “Vielleicht fehlt er ja und wir schaffen ausnahmsweise mal eine ganze Seite.” “Wenn der noch einmal von seiner dämlichen Discworld redet…” Und während alle über den Rattenkönig, der sich als großer Terry Pratchett Fan anscheinend den Spitznamen “Midget Pritchett” verdient hatte, grinste die Lehrerin nur und tat so, als würde sie nichts hören.

Doch dann kam er reingewuselt. Hochroter Kopf, eine dicke Brille und einen dickeren Nacken, ein Rattenschwanz als Frisur und noch einen halben Kopf kleiner als ich. Sofort tat mir der seltsame Kerl leid und mein guter Vorsatz, immer freundlich zu ihm zu sein, verstärkte sich nur.

Die AG wurde durch Pritchett zur Tortur. Wir alle hatten mit den Canterbury Tales schwer zu kämpfen, das Mittelenglisch und die antiquierte Prosa fielen niemandem leicht, doch der Rattenkönig, mit einem extrem deutschen Akzent und dem völligen Fehlen rudimentärer Vokabeln erwies sich als der Blinde unter den Einäugigen. Schlimmer noch: er schien seine Inkompetenz mit einem absurden Enthusiasmus überspielen zu wollen und verwandelte jeden Monolog in ein explositionsartiges Schauspiel mit einem klischeehaften Akzent der an die Nazis in Indiana Jones erinnerte. Das alles hätte ich ihm verziehen, aber jeder zweite Satz erinnerte ihn an eine Szene aus einem der Discworld-Romane, und es schien ihm völlig egal, dass niemand sonst diese gelesen hatte, und so verfiel er ständig in Tiraden, die nichts mit der AG zu tun hatten.

Den Entschluss, freundlich zu ihm zu sein, sollte ich alsbald bereuen. Einmal saß ich im Wahlpflichtfach Informatik neben ihm, und er schaute ein Video, und ich fragte nur: “Ist das DotA?” Und er lachte laut und leicht verächtlich, als hätte ich ihn gefragt, ob ein Golden Retriever eine Katze sei, “Nein, das ist League of Legends!”

Und ab dem Tag, ließ er keine Gelegenheit aus, über das Spiel mit mir, oder vielmehr zu mir, zu reden. Ein Gespräch ergab sich nie, nur seine Tiraden über das Spiel und meine flehentlichen Erinnerungen, dass ich ihm nicht folgen kann und auch gar kein Interesse habe.

“Ja und nach sieben Minuten in der oberen Lane hatte ich dann den Ring der Gier aber dann kam der Hard-Carry aus dem anderen Team und sein Q haut halt richtig rein wenn da noch Creeps sind…”

Bitte, Rattenkönig, ich weiß nicht wovon du redest. Ich hab dir doch gesagt ich habe noch nie LoL gespielt. “Ja also sein Q macht einen großen Pilz und mit E kann er den dann…”

Bitte, Rattenkönig, das interessiert mich wirklich nicht.

BITTE, Rattenkönig, wieso sollte ich denn das Turnier gucken wenn ich nichtmal LoL spiele?

Aber es war längst zu spät. In jeder Pause, in der AG, auf dem Weg zur Schule, auf dem Weg nach Hause. Immer fürchtete ich den Ruf des Rattenkönigs. “Stefan! Warte mal! Ich bin jetzt in der Silberliga! Hab jetzt mit dem Wasserelementar ein ELO von 1450! STEFAN!”

Und wieder und wieder und wieder. Ich laufe über einen Flur, oder sitze in der Pause auf dem Hof, oder stehe in der Kantine um einen Kaffee an, da kommt sie, die verhasste Stimme, “Stefan!” Der Ruf des Rattenkönigs.

Irgendwann rede ich mit der Studentin aus Brighton, und ich will sie fragen, ob sie sich mal mit mir in der Stadt treffen will. Dann ertönt er, der Ruf des Rattenkönigs: “Stefan! Hast du das Finale gestern gesehen? Team Liquid hat mit Biimo gewonnen! Sieben zu vier! Das letzte Spiel war so…”

Der gute Vorsatz, vergessen. “Lass mich doch mal mit dem Scheiß in Ruhe, Rattenkönig! Ich spiele kein LoL, ich lese keine Scheibenwelt, und so geil du die Reihe findest, bin ich ziemlich sicher, dass sie scheiße sein muss. Lass mich in Ruhe. Ich will nicht dein Freund sein!”

Der Vorsatz, gebrochen, die Studentin, verschwunden, der Rattenkönig, unbeirrt, in seinem wirren Monolog über ein Spiel das sonst niemand spielte oder ein Buch das sonst niemand gelesen hatte.