5:30 Uhr, an einem Augusttag vor etwa zwölf Jahren.
Der Wecker klingelt, aber ich bin längst wach. Konnte vor
Aufregung kaum schlafen und fühle mich gerädert. Schlürfe einen Kaffee auf dem
Balkon und schaue vom siebten Stock auf das Viertel runter. Es sind bereits
über 20 Grad. Ich hasse den Sommer.
Nach einer gründlichen Dusche radle ich los, 20 km den Rhein
rauf. Die Arbeit geht ausnahmsweise viel zu schnell rum und mit jeder Minute,
die ich mich dem Feierabend nähere, werde ich nervöser. Ich darf heute ´ne
Stunde früher gehen, denn heute ist mein erster Tag an der Abendrealschule.
Nach Feierabend schwinge ich mich wieder aufs Rad und komme nach
einer halben Stunde im Höllentempo völlig verschwitzt an der Schule an. Ich bin
zu früh, aber so kann ich noch einen Platz in der zweiten Reihe ergattern.
Genau da wollte ich hin, das hatte ich auf dem Weg genau überlegt. Da bekommt
man alles mit, aber falls nette Mädels in der Klasse sind, halten die mich
nicht direkt für einen Streber - denn der würde schließlich in der ersten Reihe
sitzen.
18:30, Herr K. kommt. Unser Klassenlehrer. Dreißig Schülerinnen
und Schüler sitzen an zwanzig Tischen. Es stinkt nach Schweiß und Deo, denn
fast alle waren wir vorher arbeiten. Der Lehrer kommt rein, setzt sich wortlos
ans Pult und schreibt erstmal etwas. Zum letzten Mal für die nächsten 18 Monate
sind wir alle still, während wir auf den Anfang der Stunde warten.
Irgendwann hebt ein junger Türke in der letzten Reihe seine
Hand. „Ich hab kein Tisch“, sagt er. Der Lehrer guckt auf. „Kein Thema, in sechs
Wochen sind zehn von Ihnen eh weg, dann ist mehr als genug Platz“. Er muss
unsere kollektive Sorge wohl gesehen haben, denn sofort legt er, weit freundlicher,
nach: „Ach, keine Sorge, wer so lange bleibt, zieht es dann meistens auch
durch.“
Sechs Wochen später. Wir sind nur noch zwanzig und jeder hat
seinen eigenen Tisch. Die Tage fühlen sich unendlich lang an, aber wenigstens
ist es nicht mehr so heiß. Die Klasse ist noch sehr motiviert, und den
Vorbereitungskurs meistern wir alle erfolgreich. Manche Dinge muss der Lehrer zehnmal
erklären, aber eine Sache verstehen wir alle, ausnahmslos, kennen wir auswendig:
„Wer keine Fünf hat, darf weitermachen. Wer eine Fünf hat, kann die durch eine
Drei ausgleichen. Wer zwei hat, muss
gehen.“
Niemand hat zwei Fünfen. Nach sechs Monaten sind wir alle, ganz offiziell,
Realschüler. Ich habe Spaß an Englisch und Deutsch und wenn ich Mathe nicht verstehe, hilft mir meine Freundin. Womit ich die verdient habe, verstehe ich beim besten Willen nicht.
Mein Chef unterstützt mich. Der hat mir überhaupt erst geraten,
den Abschluss nachzumachen. Nach vielen Jahren prekärer Scheißjobs und sporadischer
Arbeitslosigkeit hatte ich mir das überhaupt nicht zugetraut. Aber ich habe
Glück. War es im Büro ruhig, schrieb er zwischendurch, dass ich das Telefon
ausmachen und was für die Schule tun soll. Stand eine Klassenarbeit an, durfte
ich früher Feierabend machen. Auch hier bin ich unsicher, womit ich das verdiene. Aber ich verstehe, dass das Glück nicht jeder hat und dass es ohne deutlich schwieriger wäre.
Der Schulalltag war angenehmer als befürchtet. Ja, irgendwie
waren wir alle Asis. Die meisten rauchten, fehlten häufiger mal, hatten nicht
immer den nötigen Respekt vor den Lehrern. Jeder hatte so seine Macke. Schlechte Hygiene wurde mit zu viel Deo kompensiert und dass Chipstüten ein gänzlich ungeeigneter Snack für einen Klassenraum sind, haben viele auch nach der dritten Ermahnung nicht verstanden.
Aber alle waren freiwillig da und
alle hatten Verständnis, wenn mal jemand was nicht kapierte was für den Rest
längst klar war. Wer jemanden auslachte, wurde kollektiv zusammengestaucht. Auch die Lehrer passten zu uns. Niemand war dort, weil sein
Leben gradlinig und planmäßig verlief.
Nach 18 Monaten hatten wir es geschafft. 20 von uns, Anfangs
mit Hauptschulabschluss, oder gänzlich ohne, waren einen Schritt weiter im
Leben, hatten neue Perspektiven und etwas Selbstbewusstsein und vielleicht
sogar etwas Stolz.
In unserem Englischbuch, ich sehe das junge Mädel auf dem
Cover, das auf einem Surfbrett durch das „Internet surft“, noch vor meinen
Augen, war ein Kapitel zum American Dream. Was denn der German Dream sei,
fragte Herr K. uns als Denkansatz. „Hier kann man Scheiße bauen und auch mal
faul sein und bekommt immer wieder zweite Chancen“, antwortete jemand.
Und auch wenn das nicht immer stimmt und auch wenn leider
noch so mancher Mensch durch’s Netz fällt, der vielleicht nicht das Glück hat,
die richtige Freundin oder den richtigen Chef zu haben: dankbar bin ich für
jede der hundert „zweiten“ Chancen, die ich im Leben bekommen habe.