NSFW - Aufklärung im Plattenbau

 

Als Ingo Berg einen CD-Brenner bekam, änderte sich das Leben für viele Jungen an unserer Hauptschule drastisch.

Kein Taschengeld zu bekommen war bei uns an der Schule nicht unüblich. „Kreative“ Wege, trotzdem etwas Geld zu ergaunern, ebenso wenig. Anfangs hatte ich dabei einen kleinen Wettbewerbsvorteil: eine ältere Schwester mit noch älteren Freunden und einer höchst flexiblen Moral. Nachdem ich in der sechsten Klasse mein erstes Sexheftchen im Laden geklaut und nach gründlicher Lektüre wieder verkauft hatte, kam mir eine Idee:

„Ähm, ja, also, kannst du mir vielleicht einen Stapel Sexheftchen kaufen?“ frage ich meine Schwester. Da mein Vater auf seinen „Hobbyraum“ bestand, in dem er Modell-LKWs lackierte und in Vitrinen ausstellte, mussten meine Schwester und ich uns ein Zimmer teilen. Das führte häufig dazu, dass ich im Wohnzimmer schlafen musste, wenn sie ihre Freunde zu Besuch hatte.

Aber in jener Nacht unterhalten wir uns mal wieder, reden wie Erwachsene miteinander, ich um einen Ton bemüht, der suggerieren soll - nein, muss! - dass es ums Geschäft und nicht um meine eigene Neugier geht. Trotzdem ist es mir leicht peinlich, als ich ihr den Handel vorschlage. Sie ist sofort dabei, und kommt noch auf die Idee, dass ihre erwachsenen Freunde ja auch direkt Bier kaufen könnten, da könne man sicher auch was aufschlagen, aber das Bier dürfe ich nicht an der Schule verkaufen, das gebe sonst riesigen Ärger.

Also kaufen ihre Freunde Bier und Sexheftchen, und ich verkaufe das Zeug an meine Freunde und an den Rest der Sechst- und Siebtklässler. Das geht eine Weile so gut, die Nachfrage ist stabil, manchmal werde ich verpetzt, aber die Erwachsenen sind gleichgültig, und ich entwickle einen gewissen Ruf als derjenige, der Schmuddelmagazine und Alkohol besorgen kann.

Doch dann kam Ingo. Ingo Berg, genannt Ingeborg, hatte einen noch größeren Wettbewerbsvorteil als ich: einen erwachsenen Halbbruder mit eigener Werkstatt. Der Bruder konnte alles. Mofas und Roller frisieren, den Kopierschutz der Playstation entfernen und sogar Pornovideos aus dem Internet herunterladen. Und Ingo hatte einen Brenner.

Die einzigen sexuellen Videos, die ich damals kannte, waren Softcore-Clips von nackten tanzenden Frauen, die nachts im Kabelfernsehen kamen. Wenn ich mal das Zimmer für mich hatte, oder ganz sicher war, dass meine Schwester schlief, verbrachte ich so manche Samstagnacht damit, auf Mitternacht und damit auf die „DSF Sexy Sportclips“ oder die Werbeclips für 0190-Nummern zu warten. „Ruf. Mich. An.“ befahlen die silkonbebrüsteten, Leder tragenden Frauen, Peitsche in der einen Hand, Telefonhörer in der anderen.

Meine Vorstellung von Pornographie war daher relativ naiv, aber ich verstand, dass man in den Internetpornos alles sehen konnte. Eine echte nackte Frau, mit der ich nicht verwandt war, hatte ich noch nie gesehen. Zwar hatten wir einen Familien-PC, den ich sogar mit einem CD-Laufwerk aufgerüstet hatte, um Diablo 2 spielen zu können, aber das Internet war längst nicht weit verbreitet, und der PC stand im Wohnzimmer.

Mein Geschäftsmodell hatte sich verlagert. Statt wie ein gewöhnlicher Kioskbesitzer direkt an Endkunden zu verkaufen, stibitzte ich Rohlingspindeln beim Elektrohandel und verkaufte diese direkt an Ingo. Dieser konnte seiner Kunden einen dadurch einen besseren Preis bieten und ich, der all das Risiko trug aber nur einen kleinen Teil der Gewinne bekam, lernte eine wichtige Lektion: wer das Kapital hat, macht auch den Profit. Nachdem Ingo bereits so ziemlich jeden, der auch nur Zugang zu einem CD-Laufwerk hatte, mit Videos versorgt hatte, wollte auch ich irgendwann wissen, wie diese Gina Wild, die unter den Jungs auf unserem Schulhof bereits den Status einer Gottheit hatte, denn so aussah. In all seiner Güte und mit all dem Witz eines fünfzehnjährigen Jungens brannte er auch mir eine CD-ROM. Gratis. Als er mir diese fies grinsend überreichte, hätte ich wissen müssen, dass mein Geschäftspartner Schindluder trieb. Doch mein inneres Warnsignal war nur ein kümmerliches Schiffshorn, das im Tosen der jugendlichen, armseligen, normalen aber doch ekligen, Notgeilheit unterging.

Und so wartete ich, und wartete ich, bis sich endlich die Gelegenheit bot, die CD, mit der Aufschrift „zum mastrubieren für stefan“ in den Familien-PC zu schieben und die sagenumwobene Gina Wild eingerahmt vom Windows Media Player zu sehen.

Der Tag kam deutlich schneller als befürchtet. Vater und Mutter, die sonst quasi nie die Wohnung verließen, außer die Mutter für den Lebensmitteleinkauf, wollten zusammen ein neues Elektrogerät für die Küchen kaufen - nachmittags. Und so radelte ich eines Tages von der Schule nach Hause, aufgeregt und leicht beschämt, mit meiner CD im Schulrucksack, denn zu Hause hätte ich kein Versteck dafür gehabt, und als ich zu Hause ankam, und sicherstellte, dass ich allein war, fuhr ich den PC hoch. Nachdem sich etwa fünf Minuten später der Desktop aufgebaut hatte, holte ich die CD aus dem Rucksack.

Ich war völlig unvorbereitet. Ich hatte eine nackte Frau erwartet, vielleicht sogar zwei Frauen, das war mein heimlicher Wunsch, aber mein Geschäftspartner, Ingeborg, der absolute Arsch, hatte mich genatzt. Statt den lieblichen Kurven einer nackten Frau zeigte mir der Windows Media Player einen Anblick, auf den ich nicht vorbereitet war. Nur die völlig verpixelte Videoqualität verhinderte meine vollständige Verstörung, als das Video „Aaaaaa.mov“ mir einen Mann zeigte, der von einem Pferd penetriert wurde. Mit leichtem Schwindelgefühl und einem Anflug von Panik drückte ich Power-Knopf des PCs, bis der Bildschirm schwarz wurde und verschwand angewidert in meinem Zimmer. DAS ist Pornographie?

Ingeborg, falls du das liest, so geht man nicht mit geschätzten Geschäftspartnern um!

Am nächsten Tag kam Ingo auf mich zu, lachend. Ob ich die Chance hatte, das Video zu sehen, fragte er mich. Ich will ihm sagen, dass er ein Hurensohn ist, dass er sich seine Rohlinge fortan selbst besorgen kann und… Moment mal! Die CD! DIE CD IST NOCH IM LAUFWERK! Was ist, wenn Vater an den PC geht?! Öffnet sich Windows Media Player auch, wenn die CD beim Hochfahren schon im Laufwerk steckt? OH NEIN!

Es folgt der längste Schultag meines Lebens. Mehrfach will ich in den Pausen abhauen und einfach nach Hause radeln, doch der jugendliche Ladendieb und Alkoholverkäufer kann sich irgendwie nicht zum Schulschwänzen überwinden, das ginge irgendwie zu weit. Und so vergeht Schulstunde um Schulstunde, in der ich mir ausmale, wie meine Eltern reagieren, wenn sie die CD, oder schlimmer noch, ihren Inhalt sehen. Die Aufschrifft der CD-ROM beschämt besonders, verdirbt sie doch jegliche Chance auf glaubhafte Abstreitbarkeit.

Als ich nach der Schule nach Hause komme, ist die CD aus dem Laufwerk verschwunden.

Bis heute weiß ich nicht, wer sie gefunden hat, und was er gesehen hat. Im besten Fall hat nur der Vater die Aufschrift der CD gesehen und sie dann weggeworfen. Im schlimmsten Fall… ich will nicht darüber nachdenken. Meine Eltern haben das Thema nie angesprochen.

Über Sex sprach man bei uns nicht.

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