Donnerstag, 19. Januar 2023

Der erste Job

Mit 18 Jahren habe ich sehr viel Zeit unterirdisch verbracht.

Nach einem deutlich unterdurchschnittlichen Hauptschulabschluss hatte ich keinen Ausbildungsplatz gefunden und ein ganzes Jahr in Abhängigkeit vom Jobcenter verbracht.

Mein sehnlichster Wunsch zu der Zeit war, das Elternhaus zu verlassen, und so musste unbedingt ein Job her. Nach unzähligen Bewerbungen war er gefunden: eine auf ein Jahr befristete Stelle im Lager eines Reiseveranstalters.

Beim Bewerbungsgespräch mit Frau Specht, einer ulkig aussehenden Reiseverkäuferin, die nebenbei wohl auch Personalsachen macht, erfahre ich: ich bekomme etwa 800 € netto für einen Vollzeitjob. Viel war das schon damals nicht, aber es reichte, um ein winziges Kellerapartment zu bezahlen und sogar etwas Geld für den Führerschein zur Seite zu legen. Dass jemand mit so einem Gehalt und einer befristeten Stelle eine Wohnung in einer deutschen Millionenstadt bekommt, wäre heute wohl undenkbar.

Mein Job wird im Keller unter den Büroräumen des Reiseveranstalters verrichtet. Um zur Kellertreppe zu kommen, muss ich das halbe Büro durchqueren. Die Reisevermittlerinnen grüßen anfangs noch zurück, als sich herumspricht, wer ich bin und wo ich arbeite, hört diese Höflichkeit schnell auf.

Die Arbeit ist perfekt für mich. Nicht sonderlich anspruchsvoll, weder körperlich noch mental groß anstrengend, im kühlen Keller. Der uralte Lagerist, Peter, ist freundlich, verzeiht so manches Ungeschick und manchen Unsinn und ist sichtlich darum bemüht, mir den Job beizubringen. Einmal pro Woche werden Prospekte, Kataloge und Inserts geliefert und müssen aus dem LKW ins Lager gebracht werden, den Rest der Woche verbringen wir damit, jene an die richtigen Kunden zu versenden. Entweder verpacke und sortiere ich die Post und laufe dabei durchs Lager, oder ich bediene im Sitzen eine Portomaschine. Wahrlich, keine große Herausforderung, aber der Job gibt mir Struktur und Unabhängigkeit von den Eltern und so komme ich jeden Tag gerne zur Arbeit.

Über uns, im Büro, brodelt es häufig. Die auszubildenden Büro- oder Touristikkaufrauen kommen fast täglich zum Weinen in den Keller und Peter heitert sie mit großväterlichen Witzen und guten Zusprüchen auf. Ich höre den Geschichten zu, von Mobbing und Tabellenkalkulationen, von gemeinen Sprüchen über Übergewicht oder Akne oder schlechte Kleidung, über Expedientenrabatte die zwar die Nichte der Chefin bekommt, nicht aber die anderen Auszubildenen, über das gestrige TV-Programm und über alkoholbedingte Ausschreitungen bei der Weihnachtsfeier. Einmal kommt Frau Specht runter und weint sich bei Peter aus. Ihr wurde gesagt, dass ihr Gesicht nicht mehr für den Katalog geeignet sei und sie als Einzige nicht mehr ihr Reiseziel repräsentieren darf. Je mehr ich über die Bürowelt „da oben“ erfahre, desto glücklicher bin ich im Keller.

Gerne würde ich sagen, dass ich meine Freizeit dazu nutze, mich weiterzubilden. Webdesign lernen vielleicht, oder Programmierung, oder einfach lesen, oder ein Instrument. Stattdessen hänge ich fast permanent am PC und zocken World of Warcraft. Damit hatte ich während meiner Arbeitslosigkeit angefangen und über Jahre nicht wieder aufhören können. Den Mangel an Fortschritt im eigenen Leben überdecke ich mit dem Erfahrungsbalken und die sofortigen, messbaren Erfolge binden mich so fest an das Spiel, dass ich über wenig anderes nachdenke. Welch verschwendete Zeit und Aufmerksamkeit...

 
Die Monate vergehen und ich freunde mich mit Dave an. Der ist der einzige männliche Reiseverkäufer, bereits jenseits der 50, von beeindruckender Enormität, sammelt hobbymäßig Abmahnungen und hängt häufig im Keller rum, wenn es ihm oben zu stressig wird. Eines Morgens bin ich in einer Toilettenkabine und Dave hämmert an die Tür. „Stefan, bist du da drin?! Beeil dich! Schnell!“ Ich will nicht gestört werden und sage nichts. Dave resigniert und motzt: „Dann geh ich eben bei den Muschis scheißen!“

Später sitze ich am Lager-PC und lese eine E-Mail, die an alle Frauen adressiert ist, aber auch an Funktionsbriefkästen wie Lager und Zentrale. Wer auch immer das „Massaker“ auf dem Damenklo verursacht habe, möge dies umgehend beseitigen, sonst würde die Chefin jemanden per Zufall bestimmen. Eine knappe Stunde später läuft Frau Specht, weinend und mit hochrotem Kopf, einen Eimer und einen Mopp tragend, durch den Keller zu den Toiletten. Ich empfinde tiefes Mitleid mit der Dame und frage mich, was sie wohl falsch gemacht habe, außer dass ihr Gesicht der Chefin nicht gefalle. Aber mir wird sehr deutlich, dass Erfolg in diesem Betrieb sehr viel damit zu tun hat, wie gut man sich mit der Chefin versteht.

Nach einem Jahr geht mein Vertrag zu Ende und wird nicht erneuert, denn die Firma hat entschieden, die Aufgaben von den Büro-Azubis übernehmen zu lassen. Das sei effizienter, und ich solle es nicht persönlich nehmen, und Peter habe ja lobend von mir gesprochen, also würde mein Zeugnis positiv ausfallen.

Während sich das Jahr dem Ende zuneigt, bewerbe ich mich weiter um Ausbildungen. Der Job im Lebenslauf gibt mir etwas Selbstvertrauen, aber irgendwie reicht das nicht, um über meinen schlechten Abschluss hinwegzutäuschen. Ich bewerbe mich auf alle Lehrstellen, die ich finde: Lagerist, Elektriker, Bäcker, Schreiner, Maler, Dreher, Schlosser… Keine Chance. Vielleicht, wenn ich meine Freizeit etwas produktiver genutzt hätte, als am PC Drachen und Kernriesen zu jagen?

Irgendwann lande ich wieder beim Amt. Dieses erlaubt mir immerhin, meine Wohnung zu behalten, weil die Rückkehr ins Elternhaus als unzumutbar eingestuft wird. Doch anstatt mir bei Bewerbungen um Lehrstellen zu helfen, sehen die meine Zukunft als billiger Lohnsklave, in kurzfristigen Beschäftigungen, in ausbeuterischen Werksverträgen, in permanenter und entwürdigender Abhängigkeit.

Zu dem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass so die nächsten drei Jahre meines Lebens aussehen würden.

Samstag, 7. Januar 2023

Domi, WoW, und andere gute Dinge, die schlecht für mich sind

Wir kannten uns schon vom Jobcenter. Einmal hatten wir uns auf dem Flur der Arge getroffen und uns unterhalten, einmal waren wir zusammen in einer Maßnahme. Das dritte Treffen war bei Edeka. Ich war einkaufen, sie räumte als 1-Euro-Jobberin Regale ein.

„Wollen wir mal was zusammen machen?“ frage ich. Vier Wochen später zieht sie bei mir ein. Unsere Wohnung ist winzig. Eigentlich könnten wir vom Amt eine größere bekommen, aber wir fühlen uns wohl. Eine Souterrain-Wohnung mit kleiner Terrasse, einem Wohnraum, einer ranzigen Küche und einem Duschbad. Die Enge der Wohnung bringt uns Nähe.

Plötzlich gefällt mir mein Leben, trotz Mangel an Fortschritt. In der Anfangszeit verlassen wir das Bett kaum. Manchmal rauchen wir nach dem Sex auf der Terrasse, weil wir das so aus Filmen kennen. Dabei reden wir dann über die Dinge, die wir so machen werden. Ich wäre gerne Lagerist, Domi möchte Kauffrau werden. Dann ziehen wir aufs Land, arbeiten bei einem großen Edeka und kaufen einen Hund.

Die 700 € oder so, die wir als Bedarfsgemeinschaft haben, reichen uns locker und bei unserem wöchentlichen Lebensmitteleinkauf, für den wir uns alle Zeit der Welt nehmen, kommen wir uns wie Könige vor. Irgendwann kaufen wir uns eine gebrauchte Waschmaschine und schieben sie auf einem Rollbrett durch halb Köln. Ich merke, wie wir angestarrt werden und ich merke, wie egal es mir ist. Wir sind jung und verliebt, scheiß drauf was die Leute denken. Als abends die Waschmaschine, die gefühlt die Hälfte unseres kleinen Duschbades einnimmt, ihre ersten Runden dreht, sitzen wir mit meinem besten Freund, einem Klempner, in unserem Wohnzimmer und trinken Bier. Noch heute kann ich mich daran erinnern, wie dankbar und optimistisch und verliebt und unbeschwert ich war.

Zwei Jahre später. Langsam aber sicher nimmt unsere Bequemlichkeit überhand. Wir werden fetter, Domi raucht mehr und mehr, lässt ihre Hygiene schleifen. Ich spiele WoW wie einen Vollzeitjob, kann an nichts anderes mehr denken und über nichts anderes mehr reden.

Ich höre auf zu lesen, werde ungeduldiger. Höre auf, Rad zu fahren. Unsere Gespräche werden stumpfer.

Bewerbungen werden seltener.

Sex wird seltener.

Gemeinsame Einkäufe werden seltener.

Während ich zocke, schaut sie fern. Sieben, acht, zehn Stunden am Tag. Irgendwann hört sie auf, zum Rauchen rauszugehen. Unser Wohn- und Schlafraum stinkt wie eine Kneipe.

Die Nähe fühlt sich beengend an.

 

Sie bricht drei Ausbildungen ab, ich bekomme nicht einmal eine Stelle. Unsere Misserfolge nehmen wir uns gegenseitig übel. Irgendwie ist jeder von uns überzeugt, dass der andere der größere Versager ist.

 

Ich hätte sicher nie eine Lehre abgebrochen, werfe ich ihr vor.

Wenigstens habe ich schon eine Lehre angefangen, wirft sie mir vor.

 

Über unsere Träume reden wir gar nicht mehr. Ständig pumpen ihre Eltern mich um Geld an. Wollen mir tolle „Investments“ verkaufen. „Du hast doch Geld!“ sagen sie und spielen damit auf ein paarhundert Euro auf meinem Sparbuch an. Je später im Monat, desto toller ist das „Investment“. Irgendwann gebe ich mein Geld für eine Gitarre aus und höre nie wieder von ihnen. 

 

Langsam aber sicher wird WoW immer schlechter. Meine Lieblingswelt verändert sich dramatisch, jede Nostalgie geht verloren. Meine virtuellen Freunde verschwinden, finden neue Hobbys, gründen Familien oder starten Karrieren. Mir wird die Zeitverschwendung immer schmerzhafter bewusst. Nicht meine Sucht bessert sich, meine Lieblingsdroge existiert schlicht nicht mehr.

 

Einen Monat bevor ich Domi verlasse und meinen ersten richtigen Job finde, logge auch ich mich zum letzten Mal aus.

Fortsetzung