Samstag, 15. Juli 2023

Ankommen

Sommer 2019. Nach einer turbulenten Trennung und einem viel zu heißen Sommer zwischen Autos und Beton hatte ich genug vom Stadtleben und suchte mir eine günstige Wohnung in einem winzigen Weindorf gute fünfzig Kilometer von der Heimat entfernt.  

Die Besichtigung konnte ich mit einer langen Radtour zuerst den Rhein herauf verbinden, bis ich an ein kleines Flüsschen, das im trockenen Juni das Flussbett nicht füllen konnte, ankam. Dieses radelte ich weiter herauf und mit jedem kleinen Dorf wuchs meine Begeisterung. Alles war grün, der Radweg perfekt gepflegt, und das Tal, anfangs weit und offen, wurde stellenweise richtig eng, sodass man zwischen steilen Felswänden durch fährt. Die umliegenden Hügel, voller Weinreben, und weiter oben, Nadel- und Mischwälder.

Dann, das Zieldorf. Der Radweg führt durch einen 235 Meter langen Tunnel unter einem riesigen Felsen und wilde Reben hängen bis kurz über Kopfhöhe über dem Weg. Der Tunnel ist schwach beleuchtet und rechts gehen abgesperrte Schächte tiefer in den Stein. Für einen Moment genieße ich die Kühle, dann verlasse ich den Tunnel und der Anblick nimmt mir die Luft. Ein alter Bahnhof, unten Sandstein und oben Fachwerk, links die Weinberge, rechts das Flüsslein, weiter rechts, mehr Weinberge. Das Dorf macht sofort einen Eindruck von Beständigkeit, davon, dass es über hundert Jahre entstanden ist und sich wohl auch die nächsten hundert Jahre nicht groß verändern wird.

Das Haus liegt in einer engen Kurve in einer Straße die nach dem Rotwein benannt ist, der dort angebaut wird, über einer alten Weinstube, die nicht mehr betrieben, aber weiterhin liebevoll gepflegt wird. Im Fenster hängt noch ein Menü, darunter eine andächtige Nachricht, die sich bei den Gästen bedankt und schweren Herzens die Schließung der Weinstube ankündigt. Man sieht ein altes Klavier, das über Jahrzehnte die Gäste unterhielt, und Sitzmöbel, die gemütlich und urig aussahen. 

Tradition in jeder Fuge, und auch hier, Beständigkeit, Ruhe.

Der Vermieter ist direkt sympathisch, spricht zuerst mit dem örtlichen Akzent aber wechselt alsbald zu Hochdeutsch, und gute fünfzehn Minuten vergehen, bevor ich überhaupt die Wohnung sehe. Er erzählt mir stolz die Geschichte des Hauses, das sein Vater im frühen 20. Jahrhundert gebaut hatte, wie der Neubau entstanden ist, wie der Altbau zur Weinstube umgewandelt wurde, die der Vermieter und seine Frau betrieben, und wie er selbst eine Schlosserei im Keller hatte. Aber nun waren auch die Vermieter alt, die Weinstube geschlossen, die Kinder weggezogen, die Schlosserei bloß noch ein Hobby in einer Werkstatt hinterm Haus, wenngleich mit viel Liebe betrieben. 

80 Jahre Geschichte, zehntausende Arbeitsstunden, und das Leben dreier Generationen und unzähliger Gäste in einem Haus.

Die Wohnung war okay, ist hier nicht interessant, aber der Ausblick aus dem Fenster war unbeschreiblich. Direkt hinterm Haus, ein Walnussbaum. Uralt, und seine Äste voller fetter Früchte, wuchs er direkt aus dem Fluss, der gerade nur ein Bach war, aber dennoch hörbar vor sich hinplätscherte. Auf der anderen Flussseite, eine Felswand, relativ Steil und doch voll von Wein und mit einem alten Rebenaufzug. Und ganz oben auf dem Hügel, eine kleine Burg.

“Wollense noch ‘ne Nacht drüber schlafen?” fragt mich der Vermieter, aber ich schlage direkt ein.

Vor der Heimreise sitze ich noch ein wenig hinterm Haus am Bach, sauge die Ruhe und Beständigkeit ein wie ein Schwamm. Und während ich dem Plätschern der Ahr zuhöre, denke ich nur:

“Ja, hier will ich bleiben”. 

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Ein Abend, gute zwei Jahre später. Um acht reißt der Fluss die Fensterscheiben aus dem Erdgeschoss, die Weinstube, das Klavier, zerstört. Gegen neun wird das Dach der Werkstatt weggerissen, kurz darauf gibt auch der alte Walnussbaum nach. Meine Wohnung, im ersten Stock im Neubau, steht knietief unter Wasser. Der Altbau hält sich tapfer, noch so bis Mitternacht, dann stürzt auch er ein. Teile des Neubaus stehen noch bis zum nächsten Tag, sonst könnte ich das hier nicht schreiben.

Heute ist da nur noch ein Schotterparkplatz. 

Bilder:

 

mein Bild



Bild aus Spiegel-Doku


Samstag, 8. Juli 2023

Dani (kurze Leseprobe)

„Ich mag deine Stimme!“

Das war ihre erste Nachricht, und das Netteste, was ich in einer langen Zeit gehört hatte. „Und wenn wir schon dabei sind, ich mag es, wie du im Gildenchat schreibst!“

Das war so 2008. Sie war in meiner WoW-Gilde und manchmal hörte man sie im Voice Chat als einziges Mädel unter 24 Jungs Taktiken erklären oder inkompetente Heiler zusammenstauchen.

Sie war etwas jünger als ich, aber während ich beim REWE Kartons gefaltet oder in einem Lager Prospekte verschickt hatte, hatte sie ihr Abitur gemacht. Sie erzählte mir, dass sie unweit von mir in Bad Godesberg, damals für mich der Inbegriff einer noblen Gegend, wohnte, gerade ein FSJ plante und danach nach Zürich ziehen würde, um zu studieren. Irgendwas mit Robotern, oder KI oder so. Eine Lebenswelt, von der ich wenig verstand. Und irgendwann kam die gefürchtete Frage, was ich denn so mache, und mir fiel keine gute Antwort an, also blieb ich bei der Wahrheit. „Also gerade schaffe ich in einem Call Center, aber ich mache nebenbei den Real-Abschluss nach.“ Und ich war sicher, dass sie nun wegrennen würde.

Aber sie rannte nicht weg: „Soll ich dich mal besuchen kommen?“

Besuchen. In meiner Wohnung? Die gänzlich schmucklose Wohnung in der Kölner Platte, die weder ein Sofa, noch einen Fernseher hatte? In der es außer einer Hand voll Schulheften kein Buch gab, keine Pflanzen, einen Duschvorhang als Badezimmertür und nur eine weiß Gott wie alte Matratze als Bett? „Na gut“, schrieb ich, „aber ich befürchte du wirst dann wegrennen.“

Aber sie rannte nicht weg. Wir saßen auf der Matratze und tranken Bier und redeten als hätten wir nicht in den jetzt Wochen jede freie Minute miteinander geplaudert und in tausend Fragen und Antworten und kleinen Pausen und Gesten und Blicken war nicht ein Hauch von Vorwurf, kein Anzeichen von Ekel, kein Hinweis darauf, dass sie mich auf Grund unserer unterschiedlichen Lebensumstände als niedriger betrachtete.

In den nächsten Monaten merkte ich häufig, dass sie versuchte, mich zu fördern. Schon am Anfang brachte sie bei mir ihr Scrubs-Boxset unter und zwang mich, die Folgen mit ihr auf Englisch zu gucken. Anfangs noch mit Untertiteln, später ging es ohne. Und heute würde ich nie wieder eine Comedy übersetzt schauen.

Wir wussten immer, dass unsere Zeit zusammen begrenzt war. Sie hatte ihren Studienplatz in Zürich, und ich hätte nie mit ihr mithalten können, selbst mit der größten Motivation, denn sie wuchs deutlich schneller als ich. Während ich nach der Arbeit binomische Formeln paukte und dem Wissen der achten Klasse hinterherrannte, bereitete sie sich auf ihr Studium und lernte die Art von Mathe, die ich auch heute nicht verstehen würde. Die Weichen waren gestellt.

Bevor sie ging, schenkte sie mir ihren „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“, was zu einem meiner Lieblingsbücher werden sollte, und beim Lesen merkte ich, dass einige Vokabeln, nach denen ich sie beim Scrubs-Schauen gefragt hatte, markiert waren. Als hätte sie sich jede davon gemerkt und später im Buch gefunden.

Mein Buch hat noch einige Seiten, und ich am liebsten würde ich die Überraschung verderben und sagen, dass Dani im dritten Drittel wieder auftaucht, dass wir uns wiederfinden, dass wir zusammen in einem kleinen Haus mit Garten und einem Hund an der See leben. Aber Dani ist jetzt Dr. Dani, und der Nachname ist anders, und sie lebt noch in der Schweiz, und ich glaube sie mag auch gar keine Hunde, aber getroffen habe ich sie seit unserer kurzen Begegnung nie wieder.