Freitag, 25. November 2022

Ich gebe auf: die absurden "Investments" meiner Schwester

Den folgenden Eintrag habe ich ursprünglich vor etwa neun Monaten auf Reddit (r/finanzen) gepostet. Da bald ein Update ansteht, möche ich ihn auch hier verewigen:

_____

Moin moin,

wenn man in der bildungsfernen Schicht aufwächst, erlebt man vielfältige finanzielle Fehlschritte, die den durchschnittlichen BWL-Justus hier ordentlich triggern würden, aber meine Schwester hat jetzt den Vogel abgeschossen und ich bin nicht mehr bereit, ihrer Familie in irgendeiner Art finanziell zu helfen.

Ihre Familie:

Schwester, 35, bis Ende 2020 Hotelangestelte, zwischendurch kurz Teilzeit, ab März Hartz 4. Neffe, Kyle-Jeremy, Name leicht abgeändert, 6, Kind Schwager, 25, Koch

Ihr "Onlinehandel"

Fangen wir chronologisch an. Weihnachten, ich glaub 2018. Ich fahre an Weihnachten mit der Bahn nach Hause. Lebe zu der Zeit von Schülerbafög, spare seit Oktober auf das Ticket. Schwester deutet den ganzen Tag an, dass sie jetzt Kohle hat. Vater wittert Geld und hakt nach. Schwester erzählt, dass sie jetzt mit iPads handelt. Ich denke mir meinen Teil, die wird sie wohl halblegal irgendwo kaufen und ein wenig Gewinn damit machen, mir doch egal. Irgendwann kommt der Spruch: "Wir kaufen uns bald einen BMW und du musst auf den ersten warten um den Fahrradschlauch zu wechseln, hahahahaha". Ihr Mann guckt nur traurig. Einen BMW kann sich der frisch ausgelernte Koch sicher nicht leisten.

Ihr tatsächliches Geschäft war noch viel dümmer als ich es mir je hätte vorstellen können. Meine dämliche Schwester hat es geschafft, acht (8!!!!) Mobilfunkverträge abzuschließen. Auf Fantasienamen, auf Kyle-Jeremy, auf ihren Mann, auf "Schwetser" statt Schwester, you get the gist. Die daraus resultierenden iPads hat sie dann wohl bei Facebook vertickt. Die guten Bewertungen dann genutzt, um weitere, imaginäre iPads zu verkaufen.

Mehrere Anzeigen wegen Betruges und Urkundenfälschung kassiert. Schuldenstand heute: 25.000 €.

Ihr "Aktienhandel"

Jahr 2020. Der 2002er BMW steht vor dem Haus meiner Eltern als ich ankomme. Schwester und Schwager, zu zweit vier Stühle einnehmend, sitzen meinen Eltern gegenüber. Vier Menschen rauchen, Kyle-Jeremy sitzt auf dem Boden und spielt. Es geht um Geld. Ich höre mir den Pitch nichtmal an, sag Mama und Papa die dürfen auf keinen Fall investieren, was auch immer denen vorgeschlagen wird. Es folgt die dümmste Episode von Dragons' Den, und ich bin Jenny Campbell.

"Wir kaufen jetzt Tesla Aktien"

"Was kostet das?"

"Paar tausender"

"Habt ihr das?"

"Ne, aber wir wissen woher wir das bekommen. Retourenkisten. 40 €, manchmal sind da Laptops und iPhones drin."

"Echt jetzt?"

Mutter guckt auf: "Ja, das hab ich mal bei Facebook gesehen, eine Frau hatte eine PS5 drin."

"Ja, wir brauchen nur 40 €. Oder genug für zwei. Also... 80 wären das. Oder 3. Also... na ja 3 x 40 halt."

"Ja und wenn nur eine davon voll mit iPhones ist können wir uns Aktien kaufen."

Die vier legen zusammen, haben gerade genug Kohle für eine Retourenkiste. Die 40 € sind komplett verloren, nichts lässt sich verkaufen.

Rebuy

Ich warne euch, jetzt wird es deprimierend.

Bisher hatte ich immer noch ein wenig Verständnis für meine Schwester. Sie hatte kein Glück mit dem Elternhaus, hatte es schwer in der Schule, hatte dämliche Freunde. Die Schuldenlast ist enorm und das Einkommen der Familie ist so gering, dass die nie auch nur ein Prozent davon zurückzahlen werden. Ich hab immer mal wieder Kleinigkeiten für Kyle-Jeremy gekauft, mal deren Kühlschrank gefüllt und immer versucht, zu beraten. Aber jetzt reichts.

Weihnachten. Die gleiche Leier wie immer. Schwester und Schwager kaufen dem Kind irgendwas, das sie sich nicht leisten können und das eigentlich für die Eltern ist. Bescherung ist zusammen mit unseren Eltern und mir. Das Kind bekommt so eine Amazon Abhörwanze. Was zur Hölle soll das Kind damit? Sie "spielen" fünf Minuten damit, das Kind sagt Alexa irgendwas, Alexa reagiert, man lacht kurz, Spaß vorbei, jetzt können die Eltern noch fauler sein.

Ich schenke dem Kind ein paar kindergerechte Bücher, die ich in seinem Alter gelesen habe. Größtenteils gebraucht, sind Bücher die ich für mich selbst kaufe auch meistens. Während Kyle-Jeremy in der schönen, bebilderten, älteren Ausgabe von "Kleiner König Kallewirsch", mein Lieblingsbuch aus der Vorschulzeit, blättert, fällt daraus ein getrocknetes Blatt. Ich werde nostalgisch weil ich an die Zeit denke, in der ich selbst schöne Ahornblätter in Büchern getrocknet habe, um der Sachkundelehrerin zu imponieren.

Meine Schwester regt sich auf, dass ich ihrem Sohn "so gebrauchten Müll" schenke. Noch WÄHREND der Bescherung zückt sie das Handy ihres Mannes und scannt die Barcodes. Ich frag was das soll, gib doch dem Kind die Bücher. Schwester sagt, der kann die ja an Weihnachten lesen und zwischen den Tagen "wenn die durch sind" kann sie die an Rebuy schicken. Warenwert: < 10 Euro.

Mir bricht das Herz. Ich fahre noch an Heiligabend in meine Einzimmerbude zurück.

Sorry Kyle-Jeremy, ich bin fertig mit deiner Familie.

Montag, 21. November 2022

Von Jobcenter-Maßnahme zum Studium: mein Weg aus Hartz 4

Moin,

ich komme aus der Unterschicht und habe mich lange von Mindestlohnjob zu ABM zu 1-Euro-Job zu Werksverträgen und welche Konstrukte, die die menschliche Arbeitskraft entwerten es noch so gibt, rumgehangelt. Meine Eltern, Schwester, Tanten und Cousins, fast alle leben wir an der Schwelle zur RTL2 Doku. 

Viele andere Fernsehsender waren sogar wirklich schon in unserem Block.

Schule? Richtig verkackt.

Bau? Hab ich hinter mir.

Lager? Da fühle ich mich ganz wohl.

Staplerschein? Längst gemacht, nicht nur wegen der Frauen.

Plötzlich bin ich Mitte 20, halbes Jahr am Stück arbeitslos, "Kunde" beim Jobcenter. Komme von einem deprimierenden Termin, bei dem ich mit meiner Beraterin über meinen Patchwork-Lebenslauf gesprochen habe, nach Hause. Freundin sitzt am Wohnzimmertisch (kompakter Neunflieser, Gelsenkirchner Spätbarock), alles stinkt nach Qualm, die Glotze läuft. Freundin bemerkt nicht, dass es mir schlecht geht und ich kann es nicht in Worte fassen. Plötzlich wird mir die Scham über meinen Lebenslauf, und mein Viertel, und meine Faulheit und Dummheit und Trägheit und meine Freundin, die mich eigentlich nicht leiden kann und immer raucht und selten duscht, und Familie und das Bittstellen beim Amt und einfach alles zu viel.

Am selben Tag fang ich an, Bewerbungen zu grinden. Viele. Zum Glück wohne ich in Kölle, es gibt tausende Jobs. Leider habe ich nur einen Hauptschulabschluss und lebe in Chorweiler, weshalb die Bewerbungen sicher meist ungelesen im Müll landen. Aber es klappt. Ich lande in einem Call Center. Im Outbound überlebt mein neu gefundener Ehrgeiz keine Woche, aber ich finde einen weiteren Job im Inbound, 50 km Radstrecke entfernt. Da kennt man auch Chorweiler nicht und so hat meine Bewerbung Erfolg. Beim neuen Job habe ich meinen Yoda-Moment: mein Chef nimmt sich meiner an. Sagt, ich solle doch bitte zur Abendrealschule. Solange ich das durchziehe, werde ich bezahlt, als hätte ich schon einen Abschluss. Damals immerhin zwei Euro mehr, let's go!

Ich lerne eine neue Freundin kennen, die macht ein FSJ nach dem Abi. Will danach irgendwas mit Robotern studieren und ist viel klüger als ich. Aber irgendwas sieht sie in mir. Anfangs zocken wir zusammen, aber immer wieder manipuliert sie mich - auf die allerbeste Art und Weise. Wir schauen Scrubs zusammen, damals meine Lieblingsserie. "Das gucken wir jetzt nur noch auf Englisch zusammen", sagt sie. Und ja, ich merke, dass es besser ist. Anfangs brauche ich Untertitel, streiche nach zwei Folgen die Segel. Aber es geht immer einfacher und macht immer mehr Spaß.

Während ich an der Abendrealschule binomische Formeln lerne, macht sie ihren B. Eng. in zwei Jahren. Sie zieht dann nach Zürich, für einen Master, irgendwas mit Robotern. Da bleibt sie dann auch. Ich bin traurig und sehr stolz auf sie. Sie hinterlässt mir ihren "Hitchhiker's Guide to the Galaxy", und immer wenn ich ihn wieder lese, bin ich dankbar, dass ich sie mal kannte.

Die Schule fällt mir nicht leicht, aber ich beiße mich so durch und schreibe gute Noten. Chorweiler liegt hinter mir, zumindest meistens. Manchmal besuche ich meine Schwester. Die macht sich über mein Einkommen lustig, ihr neuer Mann, der Elmar, verdient als Koch ja fast doppelt so viel, und sie ja auch, also mit Unterhalt und Kindergeld und allem, und sowieso, für so ein Geld würd sie ja nicht aufstehen.
Und der Vater, der pflichtet ihr bei und die Mutter, die schweigt nur und sieht traurig aus, und der Elmar, der einen richtigen Beruf hat, der kauft sich bald einen BMW, "und der ist sicher bequemer wie dein Fahrrad", und alle lachen und alle rauchen, außer die Mutter, die ist anteilslos, und die Besuche werden seltener.

Irgendwann ist die Schule fertig. Mein Chef ist happy, jetzt könne ich ja mal über eine Teamleiter Position nachdenken. Wäre mein Leben ein Film, hätte ich den Hitchhiker's Guide in der Brusttasche als ich zu ihm sage:

"Danke für alles, aber jetzt erstmal Abi"