Sonntag, 30. April 2023

An einen alten Freund

 Kevin hatte die Angewohnheit, immer unerwartet irgendwo aufzutauchen.

Kennengelernt habe ich ihn, ich war wohl so 8 oder 9, als ich mit Schulfreunden Fußball spielte. Drei gegen drei, wir verlieren, und mein Teampartner, die Lusche, ist sauer und nimmt seinen Ball  mit nach Hause damit niemand mehr spielen kann. Kevin taucht auf, sagt er könne einspringen, er habe auch einen Ball, weil er wohnt ja um die Ecke, und da kann man den ja schnell holen.

Wir landeten dann in derselben fünften Klasse an der Hauptschule, und wenn er mal mein Fahrrad am Randes des Waldstreifens zwischen den beiden Neubaugebieten stehen sah, kam er zu mir, kletterte auf denselben Baum, und wir sprachen über die Dinge, die man als Kinder so bespricht.

Sieben, acht Jahre später torkelte ich nach einer Feier in der Morgendämmerung nach Hause, da kam er von hinten angeradelt, legte mir die Hand auf die Schulter und ließ sich ein paar Meter ziehen. “Na, du Fotze?”

Kevin war mir immer einen Schritt voraus. Schrieb ich eine Drei, hatte er eine Zwei. Trank ich mein erstes Radler, trank er sein erstes Bier. Hab ich meinen ersten Kuss von Sandy bekommen, hat sie ihm einen runtergeholt.

Er war immer etwas witziger, immer etwas selbstbewusster, immer etwas glücklicher. Und immer eine Hand breit größer.

Kevin lebte mit seiner Mutter, die in einem Reisebüro arbeitete und auf mich immer wie eine Frau aus dem Fernsehen wirkte. Cooler als andere Mütter, jünger, freier. Schlank und blond. Vater hatte mal über sie gespottet, weil sie geschieden war. Kevin nannte sie beim Vornamen, Corinna. Selbst die Wohnung beeindruckte mich. Hell und modern, im Flur hing ein Bild, das eine schwangere Frau mit freier Brust zeigte, welches meine Eltern sicher als empörend empfunden hätten.

Einmal haben wir zusammen seinen Vater im Ruhrgebiet besucht. Der hatte ein kleines Reihenhaus vom Opa Hannes, der an Staublunge gestorben war, geerbt. Corinna fuhr uns, in einem kleinen Coupé, und als sie das Fenster runterkurbelte, um aus dem Auto zu aschen, flatterten ihre blonden Haare im Fahrtwind und gaben mir den ersten Ständer, an den ich mich erinnern kann.

In Duisburg, oder Dortmund, oder woauchimmer im Ruhrpott, empfing uns dann der Vater. Der stand in seinem kleinen Vorgarten, auf dem Grill ein paar Bratwürste, trug Sonnenbrille und Jeans und ein weißes Unterhemd und trank Bier aus einer Dose. Umarmte Corinna, klatschte ihr auf den Hintern, und sie küsste seine Wange. Das war mehr Nähe, als ich von meinen ungeschiedenen Eltern, die immer verklemmt und spießig und trotz dauerhafter Arbeitslosigkeit ständig gestresst und überfordert wirkten, kannte. Für mich damals der Inbegriff junger, reicher, rebellischer Eltern. Abends saßen wir dann vorm Super Nintendo des Vaters, der noch kurz ausgehen wollte, zu seiner Freundin wie Kevin vermutete, und ich hätte Kevin gern gesagt, wie sehr ich ihn um seine Eltern beneidete.

Einmal, ich war wohl so 15-16, wollte meine Schwester nachts unser Zimmer für sich haben; ihr Freund war da. In solchen Nächten schlief ich im Wohnzimmer. Aber in dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. So ging ich raus, auf den Spielplatz, um ein vom Vater geklautes Bier zu trinken und mir in Ruhe selbst leid zu tun.

Und unverhofft taucht Kevin auf, auf seinem Rad. Für einen Moment freue ich mich riesig, jemanden zum Reden zu haben, aber Kevin ist nicht allein. Auf seinem Gepäckträger sitzt ein Mädel mit schwarzen Haaren. Ich sehe Kevin auf mich zeigen, und er lenkt ein, und radelt auf mich zu. Was ich denn so spät da noch mache, und ich sag nur Bier trinken, und Kevins Begleitung begrüßt mich, und ich erkenne, dass sie schon älter ist als wir, wohl mindestens zwanzig, und bald besteht sie darauf, weiterzuziehen. Und Kevin lacht und ist sichtlich stolz auf sich und die beiden radeln von dannen.

Das Mädchen hat bereits einen Sohn, und Kevin, dem selbst der Papa oft gefehlt hat, nimmt sich der beiden an. Er beendet die Realschule, macht dann eine Lehre als Elektriker. Manchmal kommt er mich und Domi besuchen, wirkt im Vergleich zu uns richtig erwachsen, voller Verantwortung. Dann ist er Geselle und effektiv Vater eines Fünfjährigen und hat immer seltener Zeit für uns. Aber als Domi mich verlässt und auszieht, kommt Kevin vorbei, hängt fast zwei Tage bei mir rum und wir zocken und trinken und reden nicht ein Wort über sie und als er geht legt er mir die Hand auf die Schulter und fragt mich: “Kommst du jetzt allein klar?” Und nach einer kurzen Pause:
“du Fotze?”

Heute ist Kevin nicht mehr witziger, selbstbewusster, glücklicher. Nachdem seine Freundin ihn mitsamt Kind verlassen hatte, um zum Biopapa zurückzukehren, zerbrach er. “Ein Kind braucht seinen Vater”, sagte sie wohl zu ihm, als sie eines Tages einfach auszog. Anfangs habe ich noch versucht, mit ihm Kontakt zu halten.

Heute weiß ich nur noch von seiner Mutter, dass er noch lebt.

Samstag, 22. April 2023

Abfluss 2007

„Es gibt eine Änderung“. Ihr dritter Versuch. Zweimal wurde die Lehrerin bereits von zu spät kommenden Schülern unterbrochen. Dabei war es bereits zehn nach acht.

Nachdem dann auch die letzten Schüler selbstgefällig an ihr vorbei gegangen waren und - provokativ langsam - ihre Plätze eingenommen hatten, der nächste Versuch. Noch vor ein paar Wochen wäre ich einer der Störenfriede gewesen, aber seitdem klar geworden war, dass ich die Quali für die Realschule nicht geschafft hatte, hatte ich eine gewisse Verachtung für mein Asi-Verhalten der letzten Jahre entwickelt.

„Es gibt eine Änderung.“ Und sie erzählte den Schülern der 9c, dass unsere Abschlussfeier nicht wie geplant in der Aula stattfinden würde, denn dort wollen jetzt doch die Realschüler feiern, sondern in der Sporthalle. “Aber da ist es ja auch ganz schön.”

So lief es häufig am Schulzentrum. Die Realschüler bekamen was sie wollten und die Hauptschüler steckten zurück. Der zur Zeiten meiner Eltern noch gemeinsame Schulhof war längst getrennt worden, die Hauptschüler auf der komplett asphaltierten Seite, mit einem hässlichen Rondell und zwei Tischtennisplatten, die Realschüler auf der anderen Seite des Gebäudes, wo es Bäume gab, und eine Wiese, und im Sommer ein Volleyballnetz. Und wenn es AGs gab, dann wurden die fast immer von und für Realschülern gemacht, und von uns traute sich fast niemand hin. Nur die “Kantine”, teilen wir uns. Ein kleiner Raum, zwei Sitzbänken und ein Kiosk, an dem der Hausmeister in den Pausen belegte Brote und Süßes und im Winter Tomatensuppe verkaufte.

„Wir brauchen auch noch jemanden, der sich um die T-Shirts kümmert. Dafür haben wir die Klassenkasse, hat da jemand Lust drauf?“. Zwei Schülerinnen in der ersten Reihe melden sich, lachend, führen offensichtlich was im Schilde. Aber die Lehrerin merkt es nicht, oder es kümmert sie nicht.
 
Der nächste Montag, die Abschlusswoche. Die Mädels teilen die T-Shirts aus. In der ersten Reihe wird schon gelacht, ich ahne Böses.  Irgendwann kommt die Kiste auch bei Kevin und mir an, Kevin lacht sich tot, mir ist das tierisch peinlich. Auf den blauen Poloshirts ragt in brauner Schrift der Schriftzug:

„Abfluss 2007 - Scheiße schwimmt oben“

Alle lachen, scheinen die Polos zu lieben. Aber ich schäme mich. In den nächsten Tagen trage ich zwar das Shirt, aber mit einem Pulli darüber, trotz der Hitze, zeige nur den blauen Kragen.

Unsere letzte Woche läuft erwartet chaotisch. Unterricht findet nicht mehr statt. Manche Lehrer fahren zwischendurch noch den Fernsehwagen in die Klassen, aber selbst für die Filme reicht unsere Aufmerksamkeit nicht mehr. Meistens hängen wir auf dem asphaltierten Schulhof rum, die Raucher rauchen hinter der Sporthalle, die coolen Lehrer sind manchmal auch dabei.



“Stütze, komm schnell, die Streber schieben Stress!” Kevin ruft mich, und ich renne hinter ihm her zur Kantine. Da sehen wir zwei Mitschüler, in den blauen Polos, umgeben von einer Traube von Realschülern, die sie rumschubsen. Einer davon Jamshid. Ein Fehler. “Ich fick dein Vaters Kopf!” schreit er einen Realschüler an, der ihn feige von hinten in die Traube geschubst hatte. Dann kommt Khorshid, sein Bruder, angerannt. Die Faust auf den Hinterkopf, der Streber landet auf  dem Boden, die Situation eskaliert. Kevin schreit, schmeißt sich in die Menge, es fliegen Fäuste. Ich ziehe den Pulli aus, zeige das blaue Shirt.

9c Pride. Klassenstolz. Scheiße schwimmt oben.

Oder doch nicht. Irgendwer schubst mich von hinten, ich lande sofort auf dem Boden. Neben mir liegt ein Realschüler. Jamshid und Khorshid treten auf ihn ein, er versucht den Kopf zu schützen. Seine Brille, zerstört am Boden. Dann, das Ende. Zwei Lehrer und er Hausmeister schreiten ein und die Situation beruhigt sich. Ich sehe Kevins blutige Nase, sehe Khordshid im Schwitzkasten des Hausmeisters, sehe wie zwei pummelige Klassenkameradinnen noch immer zufällige Realschüler anpöbeln, dicke Schweißringe unter den blauen Ärmeln. Ich bin in bester Gesellschaft. Während uns die Lehrer durch den Hauptschultrakt zum Rektor eskortieren, werden wir gefeiert. Ich habe Kevin selten glücklicher gesehen.

Zur Abschlussfeier sind auch die Eltern eingeladen, aber die wenigsten werden auftauchen. Auf der Einladung zu Abschlussfeier kreuze ich “Wir werden nicht teilnehmen” an und lasse meine Schwester die Unterschrift meiner Mutter fälschen. Die konnte sie im Schlaf. Ich war zwar sicher, dass meine Eltern ohnehin kein Interesse an den Feierlichkeiten gehabt hätten, aber war froh um jedes Gespräch, das ich nicht mit Vater führen musste.

Am Tag der Zeugnisausgabe holen uns Kevins Eltern ab, um seine bestandene Quali für die Realschule bei McDonalds zu feiern. Was machst du denn jetzt nach der Schule, fragt mich seine Mutter während der Autofahrt. Ich habe keine gute Antwort, denn einen Ausbildungsplatz habe ich bisher nicht.

Plötzlich ist mir mein blaues Poloshirt wieder sehr unangenehm.







Montag, 17. April 2023

Kindskopf

“Sei nicht langweilig!” schrieb sie in ihrem Tinder-Profil. Trotzdem hab ich es “geliked”.

Sie war spontaner als ich, und viel verrückter, und jünger, kannte jeden und lebte im Moment. Trotzdem klappte es irgendwie. Das erste Treffen war wenige Stunden nach dem Tinder Match. Sie fragte nach meiner Nummer, und ohne Ankündigung kam ein Videoanruf. Was zur Hölle. Sie saß offensichtlich in einer Unterführung auf dem Boden, Kippe in einer Hand, das Handy in der anderen. Endlos elegant und unfassbar unbeschwert. Ach ja, habe ich wohl Lust, zu einem Konzert zu gehen, “gleich”, so richtig spontan?

Sei nicht langweilig, dachte ich mir, und sagte zu. Sie war impulsiv, lachte laut und häufig, sang jedes Lied laut mit, selbst wenn sie nur eine grobe Idee vom Text hatte und bewegte sich so leicht, sorglos, natürlich.

Einmal lagen wir nach einem Konzert auf ihrem Sofa, Kopf an Fuß, redeten die Nacht weg, bis wir die Vögel hörten. Längst hatte ich beschlossen, den gelben Schein einzureichen, um noch etwas länger den irren Geschichten zuzuhören - und Vitalogy auf Repeat. Einmal pennte sie weg, weckte sich selbst mit einem lauten Schnarchen, und redete weiter.

Daneben ich, blau, breit und zufrieden.

Von solchen Nächten hatten wir einige, bis sie dann irgendwann die Frage stellte, die mich schon so manche Beziehung gekostet hatte. “Willst du eigentlich mal Kinder haben?”

Nein, nicht wirklich, du? Ja und möglichst bald. Und von jetzt auf gleich schwebt das Damoklesschwert aus Scheiße über jedem Treffen. Wir daten noch eine Weile, jede Begegnung etwas weniger unbeschwert als die letzte. Sie sucht nebenbei nach einer Beziehung mit Zukunft und ich suche das Weite.

Etwas Zeit vergeht, vielleicht ein Jahr. Dann sehe ich sie wieder. Ein Café in der Unteren, sie sitzt draußen, ein Typ hält ihre Hand. Leicht übergewichtig, rosa Polo-Shirt, Armbanduhr, fliehendes blondes Haar, Schweinsgesicht. Und daneben sie, mit ihren verrückten blauen Augen, und den tätowierten Armen, leicht und so mühelos reizend.

Fuck, denke ich mir nur, wie ist das passiert? Hoffentlich sieht sie mich nicht. Doch sie ruft laut “Stefan!”, und ich lasse mich zum Hinsetzen überreden. Sie stellt mir den Schweinemann vor, den ich aus purer Eifersucht so abschätzend behandle, und der sicher ein netter Typ ist, aber Gott der ist Bankkaufmann, als hätte ich es geahnt. Aber er hat die Frau und die stabile Karriere, kann ihr das Haus und die Kinder geben und den Skoda Kombi.

Daneben ich, derselbe Kindskopf wie ich es vor zehn Jahren war, und in zehn Jahren sein werde.

“Okay, ich muss jetzt los, hab noch eine Verabredung”, lüge ich, und gehe nach Hause, unzufrieden und unfähig, das zu ändern.

Dienstag, 4. April 2023

Flirtversuch bei Edeka

Ein paar Wochen lang habe ich Ausreden gesucht.

Ist das nicht unhöflich? Oder: Vielleicht problematisch, nicht dass sie sich auf der Arbeit belästigt fühlt. Oder: Heute ist eh zu voll, viel zu stressig.

Aber irgendwie ging mir die Idee nicht aus dem Kopf, und so nahm ich mir vor, es einfach mal zu versuchen. Tinder hatte mich faul gemacht. Swipen, chatten, verabreden: alles ohne Risiko, ohne dass man viel investieren muss, ohne dass man Absagen persönlich erlebt. Daten für Schüchterne.

Einmal saß sie an der Kasse als ich völlig verranzt aussah und Wein und Gummis gekauft habe. Mein Drei-Tage-Bart und erste weiße Haare auf dem Kopf lassen keinen Zweifel daran, dass ich die Dreißig hinter mir gelassen habe, und so konnte ich ihre Aufforderung, meinen Ausweis zu sehen, nur als gut gemeinten Witz auffassen. Haha, sagte ich nur, und sie so: schönen Abend wünsche ich dir! Genug, um mich zwei Tage immer wieder grinsen zu lassen.

Und dann, vielleicht drei Wochen später, der perfekte Zeitpunkt. Wenig los im Laden, und sie räumt gerade ein Regal ein. "Verzeihung", sag ich, und sie dreht sich um. Das war nicht vorbereitet, und vielleicht etwas ungeschickt, aber ich frag sie, was sie davon hält, wenn ihr Männer auf der Arbeit ihre Nummer geben wollen. "Kommt auf den Mann an." sagt sie, aber sie grinst. Und dann: "Ich hab mein Handy nicht hier, aber ich kann dir meine geben."

Erfolg. Ohne Bildschirm dazwischen, ohne zu swipen. Ohne die immergleichen, nervigen, seelenlosen ersten Chats. Ohne Dates, die eher Bewerbungsgesprächen als authentischen Begegnungen gleichen.

Später schreib ich ihr, sie kommt ein paar mal nach der Arbeit vorbei, wir gehen spazieren oder hängen bei mir rum. Schlafen ein paar mal miteinander und machen einen kleinen Ausflug an die Nordsee. Irgendwie funkt es nicht so richtig, wir haben nicht viel worüber wir reden können, die lange Autofahrt verbringen wir größtenteils schweigend. Eigentlich ist sie mir deutlich zu jung und süchtig nach Insta und Tiktok. Ich trinke ihr zu viel und bin ihr zu wehmütig. Sie will Kinder, ich will nur einen Hund.

Unsere Wege trennen sich, aber ich bin froh, dass ich den Mut aufgebracht habe. Vielleicht ein Lichtblick für jene, die lieber analog unterwegs sind.

Offline geht wohl auch noch.