Mittwoch, 15. Februar 2023

Nora

 

Mai, irgendwann um 2007 rum. Die neunte Klasse und damit meine Schulzeit neigen sich dem Ende zu. An einem lauen Abend hänge ich mit meinem Freund Kevin am späten Abend auf einem Kinderspielplatz herum. Nur die Schaukeln, auf denen wir sitzen, sind noch halbwegs intakt.

 

Das Klettergerüst ist beschmiert mit amateurhaftem Graffiti, die Rutsche hat einen dicken, braunen Streifen in ihrer Mitte. Rost, hoffe ich. Der Sand ist voll mit Kippen, überall liegt Müll. Kinder spielen hier selten.

 

Kevin hat bereits seine dritte Dose Kölsch geleert, fängt die vierte an, ich bin noch bei der zweiten. Für unser Alter sind wir sehr nostalgisch und fangen jedes neue Thema mit der Phrase „weißt du noch?“ an. Während wir in Erinnerungen schwelgen und uns Geschichten erzählen, von denen wir beide wissen, dass sie völlig übertrieben sind, aber es aus Respekt vor dem anderen nicht aussprechen, wird es dunkel. Irgendwann legt sich Kevin in den Sand und fängt zu schlafen an. Ich sitze weiter auf der Schaukel, nippe zwischendurch an meinem Bier und genieße das absolut perfekte Maß an Beschwipstheit.

 

„Was macht ihr denn hier noch?“ fragt eine Mädchenstimme, und plötzlich bin ich wieder hellwach. Nora aus der 9c. „Ähm, nix“ sage ich, und hoffe inständig, dass ich dabei cool und gleichgültig wirke. „Geht’s deinem Freund gut?“ fragt Nora. „Ja der pennt nur.“

 

Was trinkstn da, fragt sie, und ich sage Bier. Biete ihr einen Schluck an. Mit einem Blick auf Kevin verneint sie. Ich hoffe sie denkt, ich habe meinen Teil zu den vier Dosen beigetragen, die um Kevin herum verteilt sind. Hoffe sie vergisst für einen Moment, dass wir im selben Jahrgang sind. Hoffe dass sie mich für erwachsen und draufgängerisch hält. Hoffe, dass sie sich nicht mehr daran erinnert, wie ich in der Dritten mal wegen Durchfall von der Schule abgeholt werden musste.

 

„Weißt du schon, was du nach der Schule machst?“, fragt Nora.

„Noch keine Ahnung. Hab mich beworben, aber bisher noch nichts. Du?“

„Erstmal noch ein Jahr Schule, für Real“, sagt Nora. „Hmm“, sage ich und bin etwas traurig, dass meine Noten nicht für die Quali gereicht haben.

 

Wir reden noch ein bisschen, Nora sitzt auf dem Rad, raucht eine Zigarette, mein zweites Bier neigt sich dem Ende zu. Die Schwelle der angenehmen Beschwipstheit habe ich hinter mir gelassen. Ich bemühe mich um einen gleichgültigen Ton und frage irgendwann, mit all dem Charme eines betrunkenen Teenagers der nachts auf einem Kinderspielplatz billiges Aldi-Dosenbier trinkt: „Kannst mir deine Brust zeigen?“

 

Nora lacht. Die linke oder die rechte, fragt sie. Ich muss knallrot geworden sein. Ich bete, dass Kevin nicht aufwacht und stammle vor mich hin… „ähm, die rechte?“ und weil ich das für höflich halte: „Bitte?“

 

Nora steckt sich von oben die Hand ins Top und zieht sie sofort wieder mit erhobenem Mittelfinger raus. „Schön, oder?“. Ich sterbe innerlich und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. „Haha, ja“. Die nostalgische, gemütliche Stimmung habe ich damit ruiniert. Nora bleibt nicht mehr lange. „Wenn sich das rumspricht…“ denke ich kurz, bis mir einfällt, dass die Schule eh bald enden wird.

 

Irgendwann schwinge auch ich mich auf mein Rad. Während ich nach Hause radle, denke ich an Nora und daran, dass ich die Schule vermissen werden und frage mich, ob ich nicht irgendwas vergessen habe.

10 Kommentare:

  1. Mach dir keinen Stress - einmal im Monat reicht auch schon völlig aus :)

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  2. Oh, der Kommentar sollte eigentlich unter den anderen Beitrag^^

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  3. Und? Hat es sich rumgesprocjen? Hast du eine ihrer Brüste noch gesehen?

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    1. Leider verlief auch der Rest meiner Jugend völlig brustlos.

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  4. Du hast aber nicht Kevin dort liegen gelassen, oder?

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  5. Ich habe Deine Seite zwischen den Feiertagen entdeckt! Du schreibst großartig! Man kann quasi nicht mehr aufhören zu lesen. Ich hoffe irgendwann schreibst Du das alles zu einem Buch zusammen und wirst damit berühmt!

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    1. Ihr glaubt nicht, wie sehr ich mich über das gute Feedback freue. Das erhellt mir richtig den Tag. :)

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  6. Nachdem ich deine Posts auf Reddit gefunden habe, muss ich dir auch einfach mal ein Kompliment da lassen, du hast eine großartige Schreibe. Für mich als Mensch dessen leben nach gesellschaftlichen Standards bisher überraschend gradlinig verlief, auch eine gesunde andere Perspektive auf das Leben. Aktuell bilde ich Menschen aus die auch nur den geraden Weg kennen und wünsche mir manchmal dein Maß an selbstreflektion.
    Nur gutes für deinen weiteren Weg und viel Erfolg!

    PS: Dein Blog hat gerade von mir auch ein Lesezeichen bekommen

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    1. Danke für das Lob und das Lesezeichen!

      Hoffentlich kann ich auch bald sagen, dass mein Leben "überraschend gradlinig" verläuft. :)

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  7. Jep. Auch von mir größte Hochachtung!

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