Sonntag, 4. Juni 2023

Der Ruf des Rattenkönigs

Der Ruf des Rattenkönigs eilte ihm weit voraus.

Nachdem ich die zehnte bis zwölfte Klasse in Abendschulen hinter mich gebracht, und nebenbei in einem Callcenter gearbeitet hatte, wollte ich die dreizehnte Klasse - und damit das Abitur - in Vollzeit absolvieren. Das Schülerbafög würde gerade für die Miete reichen, aber ich hatte gute tausend Euro zusammengespart, die für Lebens- und Haushaltsmittel reichen mussten.

Das Kolleg sah vormittags nicht groß anders aus als abends, aber die Schüler und Lehrer schienen irgendwie entspannter. In der erste Pause des neuen Schuljahres stellte ich mich meinen neuen Klassenkameraden vor, und das Gespräch fiel auf Computerspiele.

“Lass bloß den Rattenkönig nicht hören, dass du zockst. Den wirste nie mehr los”. Der Rattenkönig, so erfuhr ich, war seit Ewigkeiten am Kolleg, etwas dümmlich, ein Dauerzocker, ein komischer Kauz, unbeliebt und irgendwie creepy. Wer sich auf ein freundliches Gespräch mit ihm einlässt, so die Legende, fände einen Freund für’s Leben - wider Willen.

In dem Moment beschloss ich, dass ich, der sich selbst oft als Außenseiter gefühlt hatte, nett zum Rattenkönig sein würde, der seinen Ruf sicher nicht verdient habe.

Ein Vorteil der Vollzeitschule gegenüber dem Abendunterricht waren die freiwilligen AGs, und ich schloss mich der AG “Englische Literatur” an. Teils aus echtem Interesse, teils weil sie von einer Studentin aus Brighton geleitet wurde, deren Akzent sie für mich unwiderstehlich und ihr Aussehen sie auch für mich erreichbar machte. Da begegnete ich ihm.

“Midget Pritchett ist noch nicht da.” “Vielleicht fehlt er ja und wir schaffen ausnahmsweise mal eine ganze Seite.” “Wenn der noch einmal von seiner dämlichen Discworld redet…” Und während alle über den Rattenkönig, der sich als großer Terry Pratchett Fan anscheinend den Spitznamen “Midget Pritchett” verdient hatte, grinste die Lehrerin nur und tat so, als würde sie nichts hören.

Doch dann kam er reingewuselt. Hochroter Kopf, eine dicke Brille und einen dickeren Nacken, ein Rattenschwanz als Frisur und noch einen halben Kopf kleiner als ich. Sofort tat mir der seltsame Kerl leid und mein guter Vorsatz, immer freundlich zu ihm zu sein, verstärkte sich nur.

Die AG wurde durch Pritchett zur Tortur. Wir alle hatten mit den Canterbury Tales schwer zu kämpfen, das Mittelenglisch und die antiquierte Prosa fielen niemandem leicht, doch der Rattenkönig, mit einem extrem deutschen Akzent und dem völligen Fehlen rudimentärer Vokabeln erwies sich als der Blinde unter den Einäugigen. Schlimmer noch: er schien seine Inkompetenz mit einem absurden Enthusiasmus überspielen zu wollen und verwandelte jeden Monolog in ein explositionsartiges Schauspiel mit einem klischeehaften Akzent der an die Nazis in Indiana Jones erinnerte. Das alles hätte ich ihm verziehen, aber jeder zweite Satz erinnerte ihn an eine Szene aus einem der Discworld-Romane, und es schien ihm völlig egal, dass niemand sonst diese gelesen hatte, und so verfiel er ständig in Tiraden, die nichts mit der AG zu tun hatten.

Den Entschluss, freundlich zu ihm zu sein, sollte ich alsbald bereuen. Einmal saß ich im Wahlpflichtfach Informatik neben ihm, und er schaute ein Video, und ich fragte nur: “Ist das DotA?” Und er lachte laut und leicht verächtlich, als hätte ich ihn gefragt, ob ein Golden Retriever eine Katze sei, “Nein, das ist League of Legends!”

Und ab dem Tag, ließ er keine Gelegenheit aus, über das Spiel mit mir, oder vielmehr zu mir, zu reden. Ein Gespräch ergab sich nie, nur seine Tiraden über das Spiel und meine flehentlichen Erinnerungen, dass ich ihm nicht folgen kann und auch gar kein Interesse habe.

“Ja und nach sieben Minuten in der oberen Lane hatte ich dann den Ring der Gier aber dann kam der Hard-Carry aus dem anderen Team und sein Q haut halt richtig rein wenn da noch Creeps sind…”

Bitte, Rattenkönig, ich weiß nicht wovon du redest. Ich hab dir doch gesagt ich habe noch nie LoL gespielt. “Ja also sein Q macht einen großen Pilz und mit E kann er den dann…”

Bitte, Rattenkönig, das interessiert mich wirklich nicht.

BITTE, Rattenkönig, wieso sollte ich denn das Turnier gucken wenn ich nichtmal LoL spiele?

Aber es war längst zu spät. In jeder Pause, in der AG, auf dem Weg zur Schule, auf dem Weg nach Hause. Immer fürchtete ich den Ruf des Rattenkönigs. “Stefan! Warte mal! Ich bin jetzt in der Silberliga! Hab jetzt mit dem Wasserelementar ein ELO von 1450! STEFAN!”

Und wieder und wieder und wieder. Ich laufe über einen Flur, oder sitze in der Pause auf dem Hof, oder stehe in der Kantine um einen Kaffee an, da kommt sie, die verhasste Stimme, “Stefan!” Der Ruf des Rattenkönigs.

Irgendwann rede ich mit der Studentin aus Brighton, und ich will sie fragen, ob sie sich mal mit mir in der Stadt treffen will. Dann ertönt er, der Ruf des Rattenkönigs: “Stefan! Hast du das Finale gestern gesehen? Team Liquid hat mit Biimo gewonnen! Sieben zu vier! Das letzte Spiel war so…”

Der gute Vorsatz, vergessen. “Lass mich doch mal mit dem Scheiß in Ruhe, Rattenkönig! Ich spiele kein LoL, ich lese keine Scheibenwelt, und so geil du die Reihe findest, bin ich ziemlich sicher, dass sie scheiße sein muss. Lass mich in Ruhe. Ich will nicht dein Freund sein!”

Der Vorsatz, gebrochen, die Studentin, verschwunden, der Rattenkönig, unbeirrt, in seinem wirren Monolog über ein Spiel das sonst niemand spielte oder ein Buch das sonst niemand gelesen hatte.








3 Kommentare:

  1. Es tut mir schrecklich Leid, dass dein erster Kontakt zum famosen Pratchett so negativ behaftet war. Ich mag die Bücher wirklich sehr und habe jedes gelesen und sie sind wirklich empfehlenswert, ich hoffe du kommst über die vom Rattenkönig geformte Erfahrung hinweg und gibst Pratchett nochmal eine Chance.
    Ganz viel Liebe! <3

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    1. Ja, bitte nix gegen Pterry, er war einer von uns.. :) Tolle Texte, freue mich aufs Buch!

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  2. Dass der verhasste Typ den verhasstesten Champ (Teemo, nicht Biimo) spielt, war ja klar xD
    Zum Glück habe ich dem Spiel den Rücken gekehrt.

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