Montag, 7. August 2023

Sandy und die Scorpions (zweiter Versuch)

Re-Upload, weil ich mit der ersten Version nicht zufrieden war. Verwirrend und zu lang. Der Abend hatte einen besseren Text verdient, also nochmal:

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Alter, das ist doch nicht Final Destination, sag ich zu Kevin.

Kevin kannte Sandy, die ein Jahr älter als wir war und gerade die Hauptschule abgeschlossen hatte. Sie arbeitete in einem kleinen, einsaaligen Kino und durfte sowohl die Filme auflegen als auch das abscheuliche Fertigpopkorn in Plastikbeuteln und die Getränke verkaufen. Das Kino war immer schwach besucht - Jahre zuvor hatte ich darin die Prämiere des Pokémon-Filmes mit weniger als 20 Menschen gesehen - und auch an diesem Tag war nichts los.

Sandy hatte uns reingelassen, irgendeinen langweiligen deutschen Film angemacht und sich zu uns gesetzt. Außer uns dreien sitzt nur ein erwachsener Typ in der letzten Reihe im Saal. Wir trinken mitgebrachtes Bier. Kevin sagt ich solle mich nicht so anstellen, er habe halt jemanden gebraucht, damit Sandys Freundin nicht allein ist und wäre ich mitgekommen, wenn er nicht Final Destination versprochen hätte?

„Welche Freundin denn?“ frag ich. Halb genervt, halb erleichtert, denn mit einem Date hatte ich nicht gerechnet. „Die ist schon oben und pennt. Lernste später kennen“ sagt Sandy. Ich bin verwirrt, weiß nicht, was „oben“ bedeutet, und bin verunsichert. Mit einem Date hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Mir wird meine ranzige, schlecht passende, unmoderne, kratzige Kleidung, die Vater kiloweise auf einem Fälschungsflohmarkt in Prag gekauft hatte, schmerzlich bewusst. Und so geht der Film vorbei, und ob man es auf die vergangene Zeit oder die Nervosität schieben möchte, ich erinnere mich nicht mehr, was wir da genau gesehen haben. 

Nach dem Film gehen wir „nach oben“. Sandy wohnt direkt über dem Kino. Im dreckigen, altmodischen Treppenhaus mit einer knarzigen Holztreppe gibt es drei Türen. Sandys Zimmer, das Zimmer ihrer Mutter, und ein fensterloses Bad, dessen Tür anscheinend entfernt und durch ein Laken ersetzt wurde. Eine Küche haben die wohl nicht. Der Erwachsene aus dem Kino folgt uns die Treppe herauf und verschwindet dann im Zimmer von Sandys Mutter. Ich bin zu angetrunken, um die ganze Situation befremdlich zu finden. 

Sandys Zimmer ist spartanisch eingerichtet. Eine Deckenlampe gibt es nicht, nur eine Nachttischlampe, die auf dem Boden steht, eine große Matratze, und auf der Fensterbank ein Fernseher mit Videospieler. Auf dem Bett liegt ein dicker Ghetto-Blaster, daneben ein dickeres Mädel, das deutlich älter aussieht als wir. Das schläft tief und bemerkt unser Eintreten nicht, bis Sandy sie mit dem Fuß anstößt. “Ich hab dir was mitgebracht“. Sie lacht und ich verstehe nicht, dass sie mich damit meint. Während ich über das schlafende Mädel steige, um einen Platz auf der Matratze zu ergattern, macht Sandy Musik an. Ich wünsche mir Linkin Park, Kevin wünscht sich Scooter, Sandy entscheidet sich für die Scorpions. Die Musik weckt die Schlafende, von der ich lerne, dass sie Kathi heißt und an einer Tanke jobbt, auf und während sie sich mit uns unterhält, bemerke ich immer wieder, dass sie mich etwas abschätzig und enttäuscht beäugt. Wir labern, trinken, witzeln, die Mädels rauchen, Kathi döst wieder weg, mitten im Gespräch und Sandy ist offensichtlich unbesorgt.

Irgendwann läuft „Winds of Change“ von den Scorpions, Sandy drückt den Repeat-Knopf und löscht das Licht. Für einen Moment sind wir andächtig und lauschen. Gemeinsam, aber doch jeder für sich allein. Betrunken, jung, ziellos.

Als sich das Lied zum siebten oder zwölften Mal dem Ende zuneigt, höre ich Geschmatze vom anderen Ende der Matratze. Ich bin etwas traurig, Rolle Kathi zur Seite und versuche zu schlafen. Das Lied beginnt von Neuem…

„The world is closing in…” Das Geschmatze wird energischer. „The wind of change blows straight…”. Kathi schnarcht in meine Richtung. Trotz der Geräuschkulisse schaffe ich es, irgendwann halbwegs einzudösen. Im Halbschlaf nehme ich irgendwann wahr, dass auch Kevin laut schnarcht und bin erleichtert, dass es zwischen ihm und Sandy wohl nicht weiter eskalieren wird. „Listening to the winds of change“. Wortwörtlich. Mein Kopf dröhnt vom Bier, vom Zigarettenrauch, vom Song den ich mittlerweile hasse, von den leicht fluoreszierenden stern- und mondförmigen Aufklebern, die die Decke schmücken. „Where the children of tomorrow dream away… “

Plötzlich bin ich hellwach. Ein warmer Körper liegt auf mir. Oh Gott nein, Kathi? Nein, Sandy. Aber warum? Hat sie nicht gerade noch mit Kevin rumgemacht? Hab ich mir das eingebildet?

Sandy küsst mich, mein erster richtiger Kuss. „On a glory night…“ Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, aber lege instinktiv meine Hände auf ihren Rücken. Habe ich jetzt wohl eine Freundin? Wieso hat sie doch lieber mich als Kevin genommen? Sie schmeckt nach Bier und Rauch und ich frage mich, wie widerlich ich erst schmecken muss. Genießen kann ich die Situation nicht, bin zu verwirrt um geil zu sein. Nach etwa drei Strophen hat sie wohl genug von meinen unbeholfenen Kussversuchen und klettert runter von mir. Dann sagt sie, ich könne mir Kathi nehmen, die würde sich darüber freuen.

Ich bin verwirrt. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, der Einladung zu folgen. Aber die ist doch kaum zurechnungsfähig, denke ich mir. Und selbst als sie noch wach war, schien sie überhaupt nicht begeistert von mir. Und überhaupt, warum will Sandy mich denn jetzt an ihre Freundin abgeben? Noch ein paar Strophen später und Kevins Schnarchen wird wieder durch sein und Sandys Schmatzen ersetzt.

Gegen sechs merke ich, dass es draußen langsam hell wird. Der Ghettoblaster ist mittlerweile aus, Batterien sind wohl leer. Ich klettere wieder über Kathi, verlasse das Zimmer, gehe pissen. Aus einer Jeans, die im Bad auf dem Boden liegt, zocke ich eine halb leere Schachtel Kippen  und komme mir dabei rebellisch vor. Draußen merke ich, dass mein Rad - das ich selbst am Bahnhof hatte mitgehen lassen - gestohlen wurde und zünde mir eine Kippe an. Ich ärgere mich, aber die Lektion ist an mich verschwendet.

Ich spaziere nach Hause und fühle mich beraubt. Eigentlich hätte ich lieber Final Destination gesehen.

2 Kommentare:

  1. Ich liebe deine Geschichten. Aber gerade bin ich verwirrt. Hast du jetzt mit Kevin geknutscht oder mit Sandy?

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    1. Mit Sandy. Aber du hast Recht, die Geschichte ist etwas verwirrend und ich sollte die mal überarbeiten.

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