Samstag, 22. April 2023

Abfluss 2007

„Es gibt eine Änderung“. Ihr dritter Versuch. Zweimal wurde die Lehrerin bereits von zu spät kommenden Schülern unterbrochen. Dabei war es bereits zehn nach acht.

Nachdem dann auch die letzten Schüler selbstgefällig an ihr vorbei gegangen waren und - provokativ langsam - ihre Plätze eingenommen hatten, der nächste Versuch. Noch vor ein paar Wochen wäre ich einer der Störenfriede gewesen, aber seitdem klar geworden war, dass ich die Quali für die Realschule nicht geschafft hatte, hatte ich eine gewisse Verachtung für mein Asi-Verhalten der letzten Jahre entwickelt.

„Es gibt eine Änderung.“ Und sie erzählte den Schülern der 9c, dass unsere Abschlussfeier nicht wie geplant in der Aula stattfinden würde, denn dort wollen jetzt doch die Realschüler feiern, sondern in der Sporthalle. “Aber da ist es ja auch ganz schön.”

So lief es häufig am Schulzentrum. Die Realschüler bekamen was sie wollten und die Hauptschüler steckten zurück. Der zur Zeiten meiner Eltern noch gemeinsame Schulhof war längst getrennt worden, die Hauptschüler auf der komplett asphaltierten Seite, mit einem hässlichen Rondell und zwei Tischtennisplatten, die Realschüler auf der anderen Seite des Gebäudes, wo es Bäume gab, und eine Wiese, und im Sommer ein Volleyballnetz. Und wenn es AGs gab, dann wurden die fast immer von und für Realschülern gemacht, und von uns traute sich fast niemand hin. Nur die “Kantine”, teilen wir uns. Ein kleiner Raum, zwei Sitzbänken und ein Kiosk, an dem der Hausmeister in den Pausen belegte Brote und Süßes und im Winter Tomatensuppe verkaufte.

„Wir brauchen auch noch jemanden, der sich um die T-Shirts kümmert. Dafür haben wir die Klassenkasse, hat da jemand Lust drauf?“. Zwei Schülerinnen in der ersten Reihe melden sich, lachend, führen offensichtlich was im Schilde. Aber die Lehrerin merkt es nicht, oder es kümmert sie nicht.
 
Der nächste Montag, die Abschlusswoche. Die Mädels teilen die T-Shirts aus. In der ersten Reihe wird schon gelacht, ich ahne Böses.  Irgendwann kommt die Kiste auch bei Kevin und mir an, Kevin lacht sich tot, mir ist das tierisch peinlich. Auf den blauen Poloshirts ragt in brauner Schrift der Schriftzug:

„Abfluss 2007 - Scheiße schwimmt oben“

Alle lachen, scheinen die Polos zu lieben. Aber ich schäme mich. In den nächsten Tagen trage ich zwar das Shirt, aber mit einem Pulli darüber, trotz der Hitze, zeige nur den blauen Kragen.

Unsere letzte Woche läuft erwartet chaotisch. Unterricht findet nicht mehr statt. Manche Lehrer fahren zwischendurch noch den Fernsehwagen in die Klassen, aber selbst für die Filme reicht unsere Aufmerksamkeit nicht mehr. Meistens hängen wir auf dem asphaltierten Schulhof rum, die Raucher rauchen hinter der Sporthalle, die coolen Lehrer sind manchmal auch dabei.



“Stütze, komm schnell, die Streber schieben Stress!” Kevin ruft mich, und ich renne hinter ihm her zur Kantine. Da sehen wir zwei Mitschüler, in den blauen Polos, umgeben von einer Traube von Realschülern, die sie rumschubsen. Einer davon Jamshid. Ein Fehler. “Ich fick dein Vaters Kopf!” schreit er einen Realschüler an, der ihn feige von hinten in die Traube geschubst hatte. Dann kommt Khorshid, sein Bruder, angerannt. Die Faust auf den Hinterkopf, der Streber landet auf  dem Boden, die Situation eskaliert. Kevin schreit, schmeißt sich in die Menge, es fliegen Fäuste. Ich ziehe den Pulli aus, zeige das blaue Shirt.

9c Pride. Klassenstolz. Scheiße schwimmt oben.

Oder doch nicht. Irgendwer schubst mich von hinten, ich lande sofort auf dem Boden. Neben mir liegt ein Realschüler. Jamshid und Khorshid treten auf ihn ein, er versucht den Kopf zu schützen. Seine Brille, zerstört am Boden. Dann, das Ende. Zwei Lehrer und er Hausmeister schreiten ein und die Situation beruhigt sich. Ich sehe Kevins blutige Nase, sehe Khordshid im Schwitzkasten des Hausmeisters, sehe wie zwei pummelige Klassenkameradinnen noch immer zufällige Realschüler anpöbeln, dicke Schweißringe unter den blauen Ärmeln. Ich bin in bester Gesellschaft. Während uns die Lehrer durch den Hauptschultrakt zum Rektor eskortieren, werden wir gefeiert. Ich habe Kevin selten glücklicher gesehen.

Zur Abschlussfeier sind auch die Eltern eingeladen, aber die wenigsten werden auftauchen. Auf der Einladung zu Abschlussfeier kreuze ich “Wir werden nicht teilnehmen” an und lasse meine Schwester die Unterschrift meiner Mutter fälschen. Die konnte sie im Schlaf. Ich war zwar sicher, dass meine Eltern ohnehin kein Interesse an den Feierlichkeiten gehabt hätten, aber war froh um jedes Gespräch, das ich nicht mit Vater führen musste.

Am Tag der Zeugnisausgabe holen uns Kevins Eltern ab, um seine bestandene Quali für die Realschule bei McDonalds zu feiern. Was machst du denn jetzt nach der Schule, fragt mich seine Mutter während der Autofahrt. Ich habe keine gute Antwort, denn einen Ausbildungsplatz habe ich bisher nicht.

Plötzlich ist mir mein blaues Poloshirt wieder sehr unangenehm.







2 Kommentare:

  1. Wie immer toll, Danke für den Einblick!

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  2. Kenn ich ebenfalls. Die Erkenntnis kommt meist spät.
    Toll geschrieben.

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