Kevin hatte die Angewohnheit, immer unerwartet irgendwo aufzutauchen.
Kennengelernt habe ich ihn, ich war wohl so 8 oder 9, als ich mit Schulfreunden Fußball spielte. Drei gegen drei, wir verlieren, und mein Teampartner, die Lusche, ist sauer und nimmt seinen Ball mit nach Hause damit niemand mehr spielen kann. Kevin taucht auf, sagt er könne einspringen, er habe auch einen Ball, weil er wohnt ja um die Ecke, und da kann man den ja schnell holen.
Wir landeten dann in derselben fünften Klasse an der Hauptschule, und wenn er mal mein Fahrrad am Randes des Waldstreifens zwischen den beiden Neubaugebieten stehen sah, kam er zu mir, kletterte auf denselben Baum, und wir sprachen über die Dinge, die man als Kinder so bespricht.
Sieben, acht Jahre später torkelte ich nach einer Feier in der Morgendämmerung nach Hause, da kam er von hinten angeradelt, legte mir die Hand auf die Schulter und ließ sich ein paar Meter ziehen. “Na, du Fotze?”
Kevin war mir immer einen Schritt voraus. Schrieb ich eine Drei, hatte er eine Zwei. Trank ich mein erstes Radler, trank er sein erstes Bier. Hab ich meinen ersten Kuss von Sandy bekommen, hat sie ihm einen runtergeholt.
Er war immer etwas witziger, immer etwas selbstbewusster, immer etwas glücklicher. Und immer eine Hand breit größer.
Kevin lebte mit seiner Mutter, die in einem Reisebüro arbeitete und auf mich immer wie eine Frau aus dem Fernsehen wirkte. Cooler als andere Mütter, jünger, freier. Schlank und blond. Vater hatte mal über sie gespottet, weil sie geschieden war. Kevin nannte sie beim Vornamen, Corinna. Selbst die Wohnung beeindruckte mich. Hell und modern, im Flur hing ein Bild, das eine schwangere Frau mit freier Brust zeigte, welches meine Eltern sicher als empörend empfunden hätten.
Einmal haben wir zusammen seinen Vater im Ruhrgebiet besucht. Der hatte ein kleines Reihenhaus vom Opa Hannes, der an Staublunge gestorben war, geerbt. Corinna fuhr uns, in einem kleinen Coupé, und als sie das Fenster runterkurbelte, um aus dem Auto zu aschen, flatterten ihre blonden Haare im Fahrtwind und gaben mir den ersten Ständer, an den ich mich erinnern kann.
In Duisburg, oder Dortmund, oder woauchimmer im Ruhrpott, empfing uns dann der Vater. Der stand in seinem kleinen Vorgarten, auf dem Grill ein paar Bratwürste, trug Sonnenbrille und Jeans und ein weißes Unterhemd und trank Bier aus einer Dose. Umarmte Corinna, klatschte ihr auf den Hintern, und sie küsste seine Wange. Das war mehr Nähe, als ich von meinen ungeschiedenen Eltern, die immer verklemmt und spießig und trotz dauerhafter Arbeitslosigkeit ständig gestresst und überfordert wirkten, kannte. Für mich damals der Inbegriff junger, reicher, rebellischer Eltern. Abends saßen wir dann vorm Super Nintendo des Vaters, der noch kurz ausgehen wollte, zu seiner Freundin wie Kevin vermutete, und ich hätte Kevin gern gesagt, wie sehr ich ihn um seine Eltern beneidete.
Einmal, ich war wohl so 15-16, wollte meine Schwester nachts unser Zimmer für sich haben; ihr Freund war da. In solchen Nächten schlief ich im Wohnzimmer. Aber in dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. So ging ich raus, auf den Spielplatz, um ein vom Vater geklautes Bier zu trinken und mir in Ruhe selbst leid zu tun.
Und unverhofft taucht Kevin auf, auf seinem Rad. Für einen Moment freue ich mich riesig, jemanden zum Reden zu haben, aber Kevin ist nicht allein. Auf seinem Gepäckträger sitzt ein Mädel mit schwarzen Haaren. Ich sehe Kevin auf mich zeigen, und er lenkt ein, und radelt auf mich zu. Was ich denn so spät da noch mache, und ich sag nur Bier trinken, und Kevins Begleitung begrüßt mich, und ich erkenne, dass sie schon älter ist als wir, wohl mindestens zwanzig, und bald besteht sie darauf, weiterzuziehen. Und Kevin lacht und ist sichtlich stolz auf sich und die beiden radeln von dannen.
Das Mädchen hat bereits einen Sohn, und Kevin, dem selbst der Papa oft gefehlt hat, nimmt sich der beiden an. Er beendet die Realschule, macht dann eine Lehre als Elektriker. Manchmal kommt er mich und Domi besuchen, wirkt im Vergleich zu uns richtig erwachsen, voller Verantwortung. Dann ist er Geselle und effektiv Vater eines Fünfjährigen und hat immer seltener Zeit für uns. Aber als Domi mich verlässt und auszieht, kommt Kevin vorbei, hängt fast zwei Tage bei mir rum und wir zocken und trinken und reden nicht ein Wort über sie und als er geht legt er mir die Hand auf die Schulter und fragt mich: “Kommst du jetzt allein klar?” Und nach einer kurzen Pause:
“du Fotze?”
Heute ist Kevin nicht mehr witziger, selbstbewusster, glücklicher. Nachdem seine Freundin ihn mitsamt Kind verlassen hatte, um zum Biopapa zurückzukehren, zerbrach er. “Ein Kind braucht seinen Vater”, sagte sie wohl zu ihm, als sie eines Tages einfach auszog. Anfangs habe ich noch versucht, mit ihm Kontakt zu halten.
Heute weiß ich nur noch von seiner Mutter, dass er noch lebt.
Sonntag, 30. April 2023
An einen alten Freund
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uff das Ende...
AntwortenLöschenWow. Das Ende hat mich zerstört. Du schreibst so gut. Bitte mach so weiter. Gruß aus Wien.
AntwortenLöschenIch war um diese Uhrzeit nicht mehr bereit für Gefühle..... du Fotze.
AntwortenLöschenGenialer Kommentar, vielen dank. Das "du Fotze" hat mich vor lachen vom Stuhl geschmissen.
Löschen"Kevin hatte die Angewohnheit, immer unerwartet irgendwo aufzutauchen.", schreibst du. Vielleicht hat er die ja immer noch, und ihr kommt irgendwann wieder in Kontakt.
AntwortenLöschenDas Ende ist ja traurig. Wahrscheinlich war Kevin sogar mehr Papa als der Biopapa, aber jooaa. Ich mag deine Art zu schreiben.
AntwortenLöschenDieser Blogeintrag ist so außergewöhnlich, jedesmal wenn ich ihn wieder lese bewundere ich dich mehr. Obwohl du jede Szene nur kurz beschreibst, hab ich das Gefühl, ich wäre dabei gewesen. Du schaffst es, dich kristallklar auszudrücken, dabei bleibst du bei einer leicht verständlichen und immer noch einzigartigen literarischen Stimme. Hut ab.
AntwortenLöschenDem kann ich mir nur anschließen.
LöschenAbsolut! So kurz und bündig aber jeder Satz wird zum Bild.
LöschenEs ist der Wahnsinn, finde ich auch.
LöschenVielleicht ist es jetzt mal Zeit für dich unerwartet bei Kevin aufzutauchen. Könnte mir vorstellen, dass ihm das hilft, so wie es dir geholfen hat, als Domi auszog.
AntwortenLöschenIch denke das Kevin einen Freund gebrauchen könnte der genau zur rechten Zeit auftaucht.
AntwortenLöschenDer Blog geht einem echt an die Nieren, aber er ist so gut geschrieben.
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