Der Hausmeister schließt die Tür auf. Licht an, an den Wänden und der Decke flüchten Scharen von Silberfischen in Ritzen und Lücken. Die Deckenlampe ist eine oben offene Schüssel, eine Falle für ein halbes Pfund toter Fliegen und Silberfische.
Ein gelbverrauchter dicker Vorhang verdeckt das einzige kleine Fenster. Im Raum, noch ein Schrank, ein Tisch und ein Bettgestell. Die Wände gefühlt aus Pappmaschee, man hört alles. Auf der Matratze muss horrendes passiert sein. “Die tauschen wir noch aus”, sagt der Hausmeister. “Perfekt, das Zimmer nehme ich”, sage ich mit Beklemmung aus der Not heraus.
Die Nasszelle - ein fensterloses Duschbad mit Wänden vollständig aus Plastik - teilen wir uns zu viert, die Lüftung ist kaputt und meine Mitbewohnerinnen lassen beim Scheißen und Duschen die Tür auf. Die Spülung ist gleichzeitig unterdimensioniert und lächerlich laut.
In der Küche hat jeder ein Fach im Kühlschrank, die Spüle versteckt sich unter einem Haufen Geschirr, die Hälfte sauber, in Anführungsstrichen, die andere dreckig. Wenigstens hier gibt es zwei Fenster. Aus einem schau ich raus, auf das Uniklinikum. An dessen Wand fällt mir ein Schornstein ungefähr im zehnten Stock auf, über dem ein riesiger Rußfleck ragt. Wie soll man das denn reinigen, frage ich mich.
Muss man da ein Gerüst bauen, oder lassen die einen Streicher mit Hängebühne runter? Was man da wohl verdient, so als Streicher? Ich hätte ja erstmal Panik, so hoch über den Boden. Aber vielleicht gewöhnt man sich daran? Der Rußfleck nimmt für ein paar Minuten meine Gedanken ein.
Alles, um nicht an den halben Staubsaugerbeutel voll Silberfischen zu denken.
Unterschicht Blog
Ein Blog über das Leben im armen Deutschland.
Sonntag, 12. Oktober 2025
Das Wohnheim
Freitag, 8. August 2025
Der Günnikologe
Irgendwann holze ich den Scheißbaum ab, schwört sich Günni, als er an der Eiche im schönsten Herbstkleid vorbeifährt, und nur seine allgemeine Trägheit schützt sie vor einem gänzlich sinnlosen Akt der Zerstörung.
Günni kommt nach Hause, nimmt einen Stapel Werbung aus seinem Briefkasten, steckt ihn in den Briefkasten einer jungen Mutter. Irgendwann, so seine Hoffnung, wird sie ihn mal darauf ansprechen. Das wäre dann seine Chance sie einzuladen, auf ein selbstgekochtes Essen, in seiner Wohnung mit den schicken Möbeln und den Fotos von Günni auf seiner Harley, und der Gibson SG, die er seit Jahren nicht spielte aber wöchentlich abstaubte.
“Der Günnikologe”, so hatte ihn Achim genannt. Den Ruf als Frauenheld hatte er sich hart erkämpft. Von den Jungs war er am längsten unverheiratet, und während der Rest des Motorradklubs langsam Kinder bekam, gefiel sich Günni in seiner Rolle als der legendäre, unzähmbare Single. Und wie so viele Legenden beruhte die des Günnikologen auf Übertreibungen, Erfindungen, und stetigem Wiederholen. Selbst bei seiner Hochzeit. Da haute der Achim eine Anekdote nach der anderen heraus, vor einer sichtlich beschämten Braut, die nur beten konnte, dass der peinliche Spitzname nicht fallen würde.
Doch so gefiel sich Günni: der Mann der jede habe konnte, aber nur seine Frau will. Der Rebell den nur die Liebe einer guten Frau zähmen kann, der Hank Chinaski des Tiefbauamtes in Kleinmichelsdorf.
Aber jetzt war er fünfzig, die Ehe war vorbei, er musste in eine kleine Dachgeschosswohnung ziehen, und seine letzte Eroberung war nur noch eine graue Erinnerung. Schlimmer noch, jetzt war selbst der Achim weg, und mit ihm würde auch langsam die Legende des Günnikologen verblassen.
Wenigstens beruflich lief es jetzt gut. Gerade war er in der Laufbahn aufgestiegen, war nun Stadtoberinspektor. “Stadtoberinspektor", das Wort gefiel ihm.
Für den Aufstieg hatte er lange gekämpft, einen langen Lehrgang neben der Arbeit gemacht, und jeden Tag gelernt. In dem guten Hemd hatte er sich in die Bibliothek der FH gesetzt, seine Bücher zu Verwaltungsrecht gewälzt, sich täglich erhofft, dass eine der dort lernenden Studentinnen ihn ansprechen würde. Vielleicht würden sie ihn für einen Professor halten.
Was er denn lerne, würde sie frage, und “ach, nur was für die Arbeit” würde er antworten, und du? Die Studentin würde sehen, dass er Geld verdient, dass er ambitioniert ist, und an ihr interessiert, und dann, wenn er Glück hätte, könnte er den Bikerjungs von seinen neuesten Abenteuer erzählen. Zu der Vorstellung mastubierte er häufig, und meist kam er, lange bevor es in seinem Kopf zum Sex kam. Es ging ihm, wie immer, mehr um die Eroberung.
“Stadtoberinspektor”, betete er sich immer wieder vor. Das hat doch was. Das klingt wichtig, nach Verantwortung. Nach Autorität. Nach Geld. Nach Stabilität. Immerhin war er Beamter. Was er der jungen Mutter alles bieten könnte. Oder den Studentinnen. Oder der blonden Bedienung in der Kneipe an der B9. Oder der…
Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen. Die Idee ist genial. Plötzlich weiß er, wie er seine Legende noch retten und für immer zementieren kann.
Es ist jetzt sechs und draußen schon dunkel, und Günni träumt unter der Dusche.
Wie läufts, wird sie ihn fragen, und er, der Stadtoberinspektor, würde sie mit seinem neuen Titel beeindrucken, und dann würden sie ein Paar, und vor seinen Augen sieht er schon die kopfschüttelnden, aber ihn doch bewundernden Bikerkollegen. “Ein alter Hund kann einfach nicht aus seiner Haut” werden sie sagen, bei der Hochzeit zwischen ihm, den Günnikologen, und Achims Witwe.
Samstag, 19. Juli 2025
Offline
Nach der Arbeit laufe ich eine kleine Runde im Wald. Ein Podcast auf den Ohren.
Das Baldachin, eine grüne Masse ohne Konturen. Des Waldes Musik, ein graues Rauschen ohne Takte oder Feinheiten.
Auf den Ohren zankt der Podcaster mit einem Gast. Der äußert eine dumme Meinung, also eine die anders ist als meine, und dann komme ich an genervt einem Wegekreuz an, huch, wo sind die letzten zwanzig Minuten geblieben?
Der Schlagabtausch geht weiter, der Hot Take, dann der Takedown, und dann Werbung für eine Take Away-App. Worum es gerade genau ging habe ich schon wieder vergessen aber mein Genervtsein hält an. Fast schon wütend bin ich auf den schlecht informierten Gast mit der schwammigen Moral. Mein Blut flieht vor den Adern. So ein Spacko…
Was mache ich hier eigentlich? Ich nehme die Hörer raus und halte inne. Nehme wahr. Der Wald beginnt sein Wirken.
Keine grüne Masse mehr: Bäume. Einzelne Bäume, trennscharf. Einzelne Blätter, Nadeln, Konturen und Übergänge. Kein graues Rauschen mehr: Das Rauschen des Windes: lauter und näher als das Plätschern das Baches, davon hebt sich ab das Lied der Vögel. Auf dem Wind liegt das Zirpen der Grillen, die ein nahes Feld bewohnen. Es riecht nach Raps.
Die Welt wird klarer, der Puls geht runter.
Heute laufe ich mal die lange Runde. Offline.
Dienstag, 1. Juli 2025
Bildungsfern: zweite Edition des Taschenbuches auf Amazon verfügbar
Die zweite und vorerst letzte Version meines Buches, mit einem Haufen Korrekturen und ein paar mehr Seiten, ist nun erhältlich.
Wer bisher unentschlossen war, oder von der "Unfertigkeit" der ersten Version abgeschreckt war, kann jetzt die korrigierte Version auf Amazon kaufen.
Der Post wird zwischendurch wegen Sichtbarkeit nach oben geschoben.
Haut rein und man liest sich,
St.
Freitag, 20. Juni 2025
Die Pforte
Mein Termin war am Freitag um 7:30 Uhr angesetzt, pure Schikane wie ich fand, denn gerade war die zweite WoW Expansion erschienen, und ich hatte weiß Gott Wichtigeres vor.
Um halb sieben rollte ich mich aus dem Bett, dusche, dann ab auf’s Rad, zwei Stationen mit der Bahn und komme beim Jobcenter an.
Die Sachbearbeiterin war bemüht, fragte mich nach meinen Ambitionen, wie immer bat ich um Hilfe bei der Ausbildungssuche und ich erwarte wie immer eine Liste prekärer Zeitarbeitsjobs zum Mindestlohn, aber diesmal werde ich überrascht: auf der Liste sind zwei Ansprechpartner für Ausbildungsplätze.
Ich gehe raus, draußen wird es schon brüllend heiß, dabei ist es gerade halb neun, und rufe die erste Stelle an. Direkt bekomme ich eine Einladung für den folgenden Montag und mein Instinkt ist es, jetzt nach Hause zu fahren und zu zocken, bis Montag durch, und dann beim Gespräch von mir zu überzeugen. Aber das minimale Erfolgserlebnis löst schon irgendwas in mir aus, und so fahre ich auf dem Heimweg bei der “Sofortvermittlung” vorbei.
“Sofortvermittlung”, das war ein euphemistischer Begriff für Tagelohnarbeit unter Mindestlohn, also spontane Arbeit für Hartzer die Geld brauchten. Ein System der Ausbeutung, in dem sich trotzdem jeder als Gewinner fühlt. Das Jobcenter bekommt uns in Arbeit, die Arbeitgeber bekommen billige Lohnsklaven ohne Nebenkosten, und die Arbeiter können Geld am Jobcenter vorbei dazuverdienen.
Eigentlich brauchte man da nicht mehr nach sieben Uhr aufschlagen, denn die meisten Tagelöhner wurden für Baustellen eingestellt.
Meine Glückssträhne sollte aber nicht abreißen, und so sitze ich mit einer Hand voll Männern aus dem EU-Ausland im Wartezimmer als ein gut gekleideter Herr gehobenen Alters rein kommt und fragt ob jemand Deutsch spricht. Ich hebe die Hand und er ruft mich auf. Er stellt sich als Hauptpförtner einer Behörde vor, ob ich den Rest des Tages Zeit habe.
Kurz darauf sitzen wir in seinem Smart, er erklärt mir den Job. Lass dir die Parkberechtigung zeigen, sagt er, und wenn das Gesicht auf dem Ausweis passt, machst du die Schranke hoch. Das sollte ich schaffen. “Wir zahlen acht Euro die Stunde”, sagt er, und ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Das ist doch alles zu gut um wahr zu sein. Ich hoffe auf sechs Stunden, das wären 45 € für den Führerschein und ein Döner mit Dosenbier für den Heimweg.
Dann stehe ich an der Schranke, unter einem Baum, es ist heiß aber der Schatten hilft, und alle paar Minuten kommt mal ein Auto, Ausweiskontrolle, Knopf drücken, Schranke auf, Schranke zu. Das ist doch zu gut um wahr zu sein, denke ich wieder, dann kommt der Herr zurück. Ich bekomme schon Panik, sicher haben die einen Fehler gemacht und brauchen mich gar nicht, aber er bringt mir nur eine Flasche Sprudel, es sei ja sehr heiß heute.
Die Zeit vergeht, je später es wird desto seltener kommen Autos, und zu jeder vollen Stunde freue ich mich über die nächsten verdienten 8 Euro, bis ich sechs abgelöst werde.
Der Pförtner kommt vorbei, gibt mir 64 € bar auf die Hand, und ich verabschiede mich.
Jackpot, denke ich mir später, während ich mit Döner und Kioskbier am PC sitze, 60 Euro dem Führerschein näher, mit den Kollegen im Teamspeak und Dungeons in WoW grindend.
Das Leben ist gut.