Heiligabend. Schon um kurz vor drei klingle ich bei meinen Eltern. Den uralten BMW meines Schwagers habe ich schon erspäht; meine Schwester, Mitte 30, ihr Mann, Mitte 20, und deren Sohn, Kyle-Jeremy, oder so ähnlich, glaube 7, sind also auch schon da.
Mutter öffnet die Tür. „Frohe Weihnachten“ sag ich. Sie bemüht sich um ein Lächeln. Vater, Schwester, Schwager sitzen im Wohnzimmer. Schwager begrüßt mich, Kyle-Brandon kann sich gerade nicht von seinem Tablet, von dem die nervigen und viel zu lauten Töne eines Minecraft-Videos scheppern, trennen. Schwester klebt am Handy und schaut kaum auf, obwohl wir uns seit letztem Weihnachten nicht mehr gesehen haben. Vater schaut fern, erhöht zwischendurch die Lautstärke, um das Minecraft „Let’s Play“ zu übertönen. Jeremy-Kyle (oder war es Kyle-Jeremy?) lässt sich im kakophonen Wettrüsten nicht schlagen und erhöht wiederum die Lautstärke seines Tablets.
Schwager fragt mich, was ich jetzt eigentlich verdiene, und ich sag es ihm, damit er sich daran erfreuen kann, mehr zu verdienen als ich. Sein gutes Gehalt sei ihm gegönnt, als Koch ist es hart und ehrlich verdient, und ich bin froh, dass er die Schulden, die meine kriminelle Schwester angehäuft hat, jetzt brav abbezahlen kann. Die Schwester wird direkt hellhörig und muss anmerken „zusammen verdienen wir also gut doppelt so viel wie du, haha“. Ich gratuliere ihr, dass sie das ohne Taschenrechner ausgerechnet hat und behalte den Rest für mich.
Irgendwann geht Schwager zum Auto, um seinen Raclette-Grill zu holen. Vater regt sich auf, über so einen neumodischen Unsinn, warum können wir das Fleisch nicht in der Pfanne braten, und wie soll man denn satt werden mit den kleinen Schälchen und überhaupt, früher war alles aus Holz. Mutter versucht ihn zu beschwichtigen, immerhin habe sie zwei Kilo Hack gekauft, und sein Lieblingsbier, und will er es denn nicht mal ausprobieren. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und mancher Mensch ist eben Gewohnheitshornochse.
Langsam wird es dunkel, wir fangen zu essen an. Gesprochen wird kaum, Brandon-Jayden ist nach zwei Pfännchen satt und spielt ein Spiel auf seinem Tablet. Vater inhaliert zwar Pfännchen um Pfännchen, motzt zwischen den Bissen aber immer wieder über diese Schnappsidee. „Das ist ja schlimmer wie letztes Jahr, als Schwager gekocht hat“. Schwager ist mittlerweile ausgelernter Koch und „letztes Jahr“ (vor zwei oder drei Jahren, als er noch Azubi war) gab es ein wirklich gutes Drei-Gänge-Menü, das er über vier Stunden in der schlecht ausgestatteten Küche meiner Eltern zubereitet hatte. Vater und Schwester, deren Nahrungsaufnahme immer nach Kalorien / Zeiteinheit optimiert war, sind sich einig: völliger Unsinn.
Irgendwann kommen wir an dem Punkt des Abends an, vor dem ich mich seit Tagen fürchte. Bescherung. Letztes Jahr war diese so deprimierend, dass ich danach zu schreiben anfing.
Jayden-Maddox packt seine Geschenke aus. Beim Öffnen ist auch er mal enthusiastisch und wach und entkräftet meine Vermutung, dass sein Tablet wohl angewachsen sein muss. Vater hat ihm einen Modell-LKW geschenkt und erzählt ihm Geschichten von seiner Zeit als Fernfahrer. Der Junge will weiter auspacken und sofort ist Vater genervt, dass sein Geschenk nicht mehr der Nexus der Aufmerksamkeit ist. Von seinen Eltern bekommt der Siebenjährige eine Google-Play-Karte über 50 € und einen Schal mit LKW-Motiven. Ich nehme an, das war so mit Vater abgesprochen.
Letztes Jahr hatte ich mir geschworen, Jamie-Brandon nichts zu schenken. Trotzdem überreiche ich ihm ein kleines Päckchen und bereue es fast umgehend. Er freut sich natürlich, reißt es auf und findet ein Schachbuch für Kinder und ein kleines Reiseschachspiel. Ich dachte, dass ich ihn damit vielleicht etwas fördern und ihm das Spiel beibringen kann. Vielleicht ist es auch völlig unangebracht für Kinder in seinem Alter, was weiß ich denn, bin ja kein Papa. Aber ich dachte es wäre schön, wenn er auch mal was Analoges spielen und dabei seinen Grips anstrengen könnte.
Meine Schwester lacht schon, als sie nur sieht, dass es ein Buch ist. „Haha, dasselbe Geschenk wie letztes Jahr!“. Hoffentlich wird sie es dieses Jahr nicht wieder verkaufen… Vater regt sich sofort auf. „Jetzt lass doch den Jung mit dem Streberscheiß in Ruhe.“Jayden-Damien ist durch das Verhalten seines Opas sofort verunsichert und jegliches Interesse am Geschenk ist im Keim erstickt. Vater kann nicht wirklich lesen, und irgendwie fühlt er sich bedroht, wenn andere Menschen um ihn herum Interesse an Dingen zeigen, die er nicht versteht. Aber es geht einfach mal nicht um ihn. Schwager hält sich raus, meine Mutter sieht nur wieder traurig aus. Warum müsse ich denn den Vater denn immer so ärgern, fragt sie mich später, als wir zu zweit auf dem Balkon sitzen. Sie raucht, und es friert sie, und sie sieht auf einmal so alt aus. Ach Mutter, sag ich nur. Dann schweigen wir, bis ihre Zigarette aufgeraucht ist.
22:30. Ich sitze allein im Bahnabteil auf dem Weg nach Hause. Ich zische mir ein Bier, das ich dem Vater geklaut habe. Eigentlich sollte ich traurig sein. Aber irgendwie fühle ich mich gut.
364 Tage Ruhe.
Wow, deine Texte sind echt gut geschrieben. Diese Einblicke in dein Leben sind super interessant und ich würd in Zukunft gern mehr von dir lesen.
AntwortenLöschenVielen lieben Dank! Ich freue mich über jeden positiven Kommentar. Neue Posts kommen zu 100%.
LöschenVon mir auch ein Dankeschön für deine Texte! Mir gefällt dein leicht melancholischer Erzählstil und dein Einfühlungsvermögen. Würde mich freuen, wenn da noch mehr kommt!
AntwortenLöschenJetzt habe ich mich extra registriert, nur um zu kommentieren. Wirklich schöner Blog, ich hoffe, er schläft nicht ein. Das ist meinem ehemaligen Blog passiert, als das Leben dazwischenkam.
AntwortenLöschenUnd: 7 ist nicht zu früh für Schach. In dem Alter hat es mir mein zwei Jahre älterer Bruder auch beigebracht und ich bin keine Intelligenz-Bestie.
Weiß ich zu schätzen, vielen Dank!
LöschenTexte die mir selbst gefallen, werden auf jeden Fall hier landen. Ob ich regelmäßig poste, hängt etwas davon ab, ob der Blog gelesen wird.
Toller Text danke dafür!
AntwortenLöschenAlter Falter. Ich danke Dir für Deine Geschichten. Und bleib an Marie-Luise dran. Du bist Ihre einzige Hoffnung.
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